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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, II. Band.

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in die Vorgeschichte Preußens eine falsche Disposition hineinbringt, verfehlt den
historischen Grundgedanken und erschwert das Verständniß der Beziehungen,
in welchen die Theile zum Ganzen stehen.

Die zwei nächsten Bände umfassen die Geschichte des Jahrhunderts von
1640 bis 1740. Man kann sagen, hier findet sich das Bild firirt. das der
Patriotisch gesinnte, mäßig unterrichtete, nach historischer Bildung strebende
Liberalismus der vormärzlichen Jahre sich von preußischer Geschichte gemacht
Hot: die populäre Karrikatur Friedrich Wilhelm's I. als des Despoten in
seiner Familie und seinem Staate wird uns ohne jede kritische Prüfung
der Ueberlieferung, durch die sie getragen ist. als wirkliche Geschichte vor¬
geführt: von der Bedeutung dieses großen Organisators in Preußen hat der
Autor keine Ahnung. für einen so eigenartigen Charakter kein Verständniß.
Grade weil man sich vielfach für die Jahre 1688--1740 veranlaßt sieht.
Stenzel's Buch als das maßgebende zu behandeln, gerade deßhalb muß betont
werden, daß dieser Abschnitt bei ihm nicht auf eigenen Studien, nicht auf
eigenem Urtheile beruht. Dem Lobe, das 1842 Hauffer über Stenzel aus¬
gesprochen hat, wird Niemand mehr beipflichten können, der an historische
Arbeit und historisches Urtheil etwas strengere Forderungen erhebt; wie alle
Welt so sah auch Hauffer damals Preußen an mit den Augen des süddeutschen
Liberalen, dem die Behauptung preußischer Eigenart und die Hervorhebung
Preußischer Verdienste um die nationale Sache damals noch als "Borusso-
manie" erschien. Ein wirkliches Verständniß der inneren Entwickelung
Preußens ist bei Stenzel nicht zu finden; ja in den zwei letzten Bänden, die
18S1 und 1854 erschienen und die Jahre 1740--1763 behandelten, stellte er
selbst sich in Gegensatz zu der richtigeren wissenschaftlicheren Behandlung
preußischer Geschichte, welche damals schon versucht worden war. Man sollte
es heute kaum für möglich erklären, daß damals (18S1) bei einem Vergleich
von Stenzel und Ranke selbst Hauffer sich aus die Seite des Ersteren ge¬
schlagen.

Leopold von Ranke, der vor jetzt fünfzig Jahren seine kritischen
Arbeiten zur Geschichte des neueren Europa begonnen, hatte zwei Jahrzehnte
hindurch fast ausschließlich das Reformationsjahrhundert als Hauptobjekt
seiner Forschung behandelt: der kritischen Behandlung und Beleuchtung
historischer Quellen hatte er die neuen Bahnen gebrochen, dem archivalischen
Studium eine bis dahin ganz ungewohnte Ausdehnung gegeben und in der
Auffassung der historischen Ereignisse und Personen dem Historiker eine eigen¬
thümliche neue Haltung angewiesen: durch alles dies war er in der That der
Meister der historischen Studien und der Führer der vielen in seiner Schule
gebildeten Historiker geworden. Auf der Höhe seiner schaffenden Kraft an-


in die Vorgeschichte Preußens eine falsche Disposition hineinbringt, verfehlt den
historischen Grundgedanken und erschwert das Verständniß der Beziehungen,
in welchen die Theile zum Ganzen stehen.

Die zwei nächsten Bände umfassen die Geschichte des Jahrhunderts von
1640 bis 1740. Man kann sagen, hier findet sich das Bild firirt. das der
Patriotisch gesinnte, mäßig unterrichtete, nach historischer Bildung strebende
Liberalismus der vormärzlichen Jahre sich von preußischer Geschichte gemacht
Hot: die populäre Karrikatur Friedrich Wilhelm's I. als des Despoten in
seiner Familie und seinem Staate wird uns ohne jede kritische Prüfung
der Ueberlieferung, durch die sie getragen ist. als wirkliche Geschichte vor¬
geführt: von der Bedeutung dieses großen Organisators in Preußen hat der
Autor keine Ahnung. für einen so eigenartigen Charakter kein Verständniß.
Grade weil man sich vielfach für die Jahre 1688—1740 veranlaßt sieht.
Stenzel's Buch als das maßgebende zu behandeln, gerade deßhalb muß betont
werden, daß dieser Abschnitt bei ihm nicht auf eigenen Studien, nicht auf
eigenem Urtheile beruht. Dem Lobe, das 1842 Hauffer über Stenzel aus¬
gesprochen hat, wird Niemand mehr beipflichten können, der an historische
Arbeit und historisches Urtheil etwas strengere Forderungen erhebt; wie alle
Welt so sah auch Hauffer damals Preußen an mit den Augen des süddeutschen
Liberalen, dem die Behauptung preußischer Eigenart und die Hervorhebung
Preußischer Verdienste um die nationale Sache damals noch als „Borusso-
manie" erschien. Ein wirkliches Verständniß der inneren Entwickelung
Preußens ist bei Stenzel nicht zu finden; ja in den zwei letzten Bänden, die
18S1 und 1854 erschienen und die Jahre 1740—1763 behandelten, stellte er
selbst sich in Gegensatz zu der richtigeren wissenschaftlicheren Behandlung
preußischer Geschichte, welche damals schon versucht worden war. Man sollte
es heute kaum für möglich erklären, daß damals (18S1) bei einem Vergleich
von Stenzel und Ranke selbst Hauffer sich aus die Seite des Ersteren ge¬
schlagen.

Leopold von Ranke, der vor jetzt fünfzig Jahren seine kritischen
Arbeiten zur Geschichte des neueren Europa begonnen, hatte zwei Jahrzehnte
hindurch fast ausschließlich das Reformationsjahrhundert als Hauptobjekt
seiner Forschung behandelt: der kritischen Behandlung und Beleuchtung
historischer Quellen hatte er die neuen Bahnen gebrochen, dem archivalischen
Studium eine bis dahin ganz ungewohnte Ausdehnung gegeben und in der
Auffassung der historischen Ereignisse und Personen dem Historiker eine eigen¬
thümliche neue Haltung angewiesen: durch alles dies war er in der That der
Meister der historischen Studien und der Führer der vielen in seiner Schule
gebildeten Historiker geworden. Auf der Höhe seiner schaffenden Kraft an-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_359154/449>, abgerufen am 28.07.2024.