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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, II. Band.

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in die Sache siegreich zu begründen ist, so wenig kann sie an objectiver Be¬
deutung bei der Irrigkeit ihres Gesammtresultates neben andere Schriften
ihres Verfassers gestellt werden. In seinen Arbeiten über das englische Staats¬
recht hat Gneist sich unvergängliche Verdienste um die Kultur unseres poli¬
tischen Denkens erworben. Er hat das ganz entstellte Bild von dem englischen
Staatswesen zerstört, welches den Continent so lange beherrscht und zu so
viel vergeblichen Experimenten verleitet hat. Der englische Staat ist nicht
der Ausdruck der souveränen Gesellschaft, und das englische Parlament ist
nicht der Vereinigungs- und Ausgleichungspunkt der gesellschaftlichen In¬
teressen, sondern die englische Freiheit ist erwachsen aus dem Boden der durch¬
geführten Zwangsleistung im unentgeltlichen Dienst der Gesellschaftsklassen
für den Staat. Das englische Parlament ist oder war wenigstens in seiner
großen Zeit nicht der Sammelpunkt des Dilettantismus, der Kritik und der
egoistischen Socialinteressen, sondern der Brennpunkt des Staatsdienstes, der
freiwilligen, lokalen im Unterhaus, und des berufsmäßig centralen im Ober¬
haus. Die Verschiebung der Staatssouveränität auf das Parlament ist das
Erzeugniß einer durchaus anomalen Entwickelung und einer dynastischen Ent¬
artung. Das Parlament hat die Last der Souveränität so lange tragen
können, als es die Zusammenfassung des wirklichen Staatsdienstes war. Seit¬
dem das System der persönlichen Zwangsleistung für den Staat, wesentlich
in Folge des Uebergangs der factischen Souveränität auf das Parlament,
nicht fortgebildet worden, seitdem die neu sich fortbildenden Kräfte diesem
System nicht mehr unterworfen, die neuen Staatsbedürfnisse nicht mehr durch
das alte großartige Mittel, sondern durch büreaukratische Einrichtungen be¬
friedigt werden, seitdem zeigt das englische Staatsgebäude überall die Spuren
eines Verfalls, von dem wir nicht wissen, ob und wann ihm Einhalt gethan
werden kann.

Indem Gneist die ewige Grundlage der staatlichen Größe, Wohlfahrt
und Sittlichkeit, welche dasselbe mit Freiheit ist, in der rigoristisch durchge¬
führten Staatspflicht, in der Unterwerfung der gesellschaftlichen Interessen
und in der unentgeltlichen Zwangsleistung der gesellschaftlichen Classen an
einem Staatwesen entdeckte, dessen Außenseite dem Auge des Aus- und In¬
landes eine ganz andere Grundlage lange Zeit zu verrathen schien, zeigte er
sich wahrhaftig nicht als Anglomane, wie man ihm fälschlich vorgeworfen.
Er hob aus dem englischen Staatswesen die wahre Grundlage aller Staaten
in der Epoche ihrer Gesundheit und Größe. Er empfahl uns auch nicht den
specifisch englischen Aufbau dieser Grundlage, sondern nur das ewig gültige
Wesen derselben zur Durchbildung in unserm Staat, im Anschluß an unsere
historischen Voraussetzungen, und unter Benutzung unserer eigenthümlichen An"
lagen. Dagegen ist die Schrift über die vier Fragen der deutschen Strafpro-


in die Sache siegreich zu begründen ist, so wenig kann sie an objectiver Be¬
deutung bei der Irrigkeit ihres Gesammtresultates neben andere Schriften
ihres Verfassers gestellt werden. In seinen Arbeiten über das englische Staats¬
recht hat Gneist sich unvergängliche Verdienste um die Kultur unseres poli¬
tischen Denkens erworben. Er hat das ganz entstellte Bild von dem englischen
Staatswesen zerstört, welches den Continent so lange beherrscht und zu so
viel vergeblichen Experimenten verleitet hat. Der englische Staat ist nicht
der Ausdruck der souveränen Gesellschaft, und das englische Parlament ist
nicht der Vereinigungs- und Ausgleichungspunkt der gesellschaftlichen In¬
teressen, sondern die englische Freiheit ist erwachsen aus dem Boden der durch¬
geführten Zwangsleistung im unentgeltlichen Dienst der Gesellschaftsklassen
für den Staat. Das englische Parlament ist oder war wenigstens in seiner
großen Zeit nicht der Sammelpunkt des Dilettantismus, der Kritik und der
egoistischen Socialinteressen, sondern der Brennpunkt des Staatsdienstes, der
freiwilligen, lokalen im Unterhaus, und des berufsmäßig centralen im Ober¬
haus. Die Verschiebung der Staatssouveränität auf das Parlament ist das
Erzeugniß einer durchaus anomalen Entwickelung und einer dynastischen Ent¬
artung. Das Parlament hat die Last der Souveränität so lange tragen
können, als es die Zusammenfassung des wirklichen Staatsdienstes war. Seit¬
dem das System der persönlichen Zwangsleistung für den Staat, wesentlich
in Folge des Uebergangs der factischen Souveränität auf das Parlament,
nicht fortgebildet worden, seitdem die neu sich fortbildenden Kräfte diesem
System nicht mehr unterworfen, die neuen Staatsbedürfnisse nicht mehr durch
das alte großartige Mittel, sondern durch büreaukratische Einrichtungen be¬
friedigt werden, seitdem zeigt das englische Staatsgebäude überall die Spuren
eines Verfalls, von dem wir nicht wissen, ob und wann ihm Einhalt gethan
werden kann.

Indem Gneist die ewige Grundlage der staatlichen Größe, Wohlfahrt
und Sittlichkeit, welche dasselbe mit Freiheit ist, in der rigoristisch durchge¬
führten Staatspflicht, in der Unterwerfung der gesellschaftlichen Interessen
und in der unentgeltlichen Zwangsleistung der gesellschaftlichen Classen an
einem Staatwesen entdeckte, dessen Außenseite dem Auge des Aus- und In¬
landes eine ganz andere Grundlage lange Zeit zu verrathen schien, zeigte er
sich wahrhaftig nicht als Anglomane, wie man ihm fälschlich vorgeworfen.
Er hob aus dem englischen Staatswesen die wahre Grundlage aller Staaten
in der Epoche ihrer Gesundheit und Größe. Er empfahl uns auch nicht den
specifisch englischen Aufbau dieser Grundlage, sondern nur das ewig gültige
Wesen derselben zur Durchbildung in unserm Staat, im Anschluß an unsere
historischen Voraussetzungen, und unter Benutzung unserer eigenthümlichen An«
lagen. Dagegen ist die Schrift über die vier Fragen der deutschen Strafpro-


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[0436] in die Sache siegreich zu begründen ist, so wenig kann sie an objectiver Be¬ deutung bei der Irrigkeit ihres Gesammtresultates neben andere Schriften ihres Verfassers gestellt werden. In seinen Arbeiten über das englische Staats¬ recht hat Gneist sich unvergängliche Verdienste um die Kultur unseres poli¬ tischen Denkens erworben. Er hat das ganz entstellte Bild von dem englischen Staatswesen zerstört, welches den Continent so lange beherrscht und zu so viel vergeblichen Experimenten verleitet hat. Der englische Staat ist nicht der Ausdruck der souveränen Gesellschaft, und das englische Parlament ist nicht der Vereinigungs- und Ausgleichungspunkt der gesellschaftlichen In¬ teressen, sondern die englische Freiheit ist erwachsen aus dem Boden der durch¬ geführten Zwangsleistung im unentgeltlichen Dienst der Gesellschaftsklassen für den Staat. Das englische Parlament ist oder war wenigstens in seiner großen Zeit nicht der Sammelpunkt des Dilettantismus, der Kritik und der egoistischen Socialinteressen, sondern der Brennpunkt des Staatsdienstes, der freiwilligen, lokalen im Unterhaus, und des berufsmäßig centralen im Ober¬ haus. Die Verschiebung der Staatssouveränität auf das Parlament ist das Erzeugniß einer durchaus anomalen Entwickelung und einer dynastischen Ent¬ artung. Das Parlament hat die Last der Souveränität so lange tragen können, als es die Zusammenfassung des wirklichen Staatsdienstes war. Seit¬ dem das System der persönlichen Zwangsleistung für den Staat, wesentlich in Folge des Uebergangs der factischen Souveränität auf das Parlament, nicht fortgebildet worden, seitdem die neu sich fortbildenden Kräfte diesem System nicht mehr unterworfen, die neuen Staatsbedürfnisse nicht mehr durch das alte großartige Mittel, sondern durch büreaukratische Einrichtungen be¬ friedigt werden, seitdem zeigt das englische Staatsgebäude überall die Spuren eines Verfalls, von dem wir nicht wissen, ob und wann ihm Einhalt gethan werden kann. Indem Gneist die ewige Grundlage der staatlichen Größe, Wohlfahrt und Sittlichkeit, welche dasselbe mit Freiheit ist, in der rigoristisch durchge¬ führten Staatspflicht, in der Unterwerfung der gesellschaftlichen Interessen und in der unentgeltlichen Zwangsleistung der gesellschaftlichen Classen an einem Staatwesen entdeckte, dessen Außenseite dem Auge des Aus- und In¬ landes eine ganz andere Grundlage lange Zeit zu verrathen schien, zeigte er sich wahrhaftig nicht als Anglomane, wie man ihm fälschlich vorgeworfen. Er hob aus dem englischen Staatswesen die wahre Grundlage aller Staaten in der Epoche ihrer Gesundheit und Größe. Er empfahl uns auch nicht den specifisch englischen Aufbau dieser Grundlage, sondern nur das ewig gültige Wesen derselben zur Durchbildung in unserm Staat, im Anschluß an unsere historischen Voraussetzungen, und unter Benutzung unserer eigenthümlichen An« lagen. Dagegen ist die Schrift über die vier Fragen der deutschen Strafpro-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_359154/436>, abgerufen am 28.07.2024.