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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, II. Band.

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aber aus den oben erwähnten äußerlichen Gründen von Seiten der Reichs¬
regierung nicht gewagt worden war, da unternahm es Rudolph Gneist in
seinen "Vier Fragen zur deutschen Strafprozeßordnung" die völlige Adoption
des englischen Strafprozesses in das deutsche Rechtsleben zu empfehlen. Der
Entwurf der Strafprozeßordnung indeß, welchen der Bundesrath jetzt dem
Reichstag vorgelegt, wagt auch diesen Schritt nicht, er begnügt sich vielmehr
im Anschluß an die bisherige Praxis, um Gneist's Ausdrücke anzuwenden, mit
dem "halben Anklageprozeß, der halben Oeffemlichkeit und der halben Münd¬
lichkeit". Mit andern Worten, der Anklageprozeß ist auf ein präparatorisches
Verfahren gebaut, welches wie bisher die Oeffentlichkeit ausschließt. Ebenso
ist bei dem Hauptverfahren die Entscheidung der ungetheilten Frage durch
die Geschworenen nicht eingeführt und in Folge dessen auch hier nicht die
Leitung des Verfahrens durch die Parteien oder die Durchbildung zum
Parteiprozeß angenommen.

Diese inconsequente Gestaltung des Strafverfahrens hat nun dem Ent-
Wurf im Reichstag lebhaften Tadel zugezogen, am meisten von Seiten des
Abgeordneten Laster. Wir müssen bekennen, daß uns die geistige Abhängig¬
keit Laster's von Gneist nie so unangenehm gewesen, als in diesem Falle.
Es ist ehrenvoll, den rechten Spuren eines großen Denkers zu folgen, und
im höchsten Grade löblich, das leugnen wir am wenigsten. Laster's großes
Verdienst ist sein uneigennütziger Fleiß, sein unermüdliches Lernen, sein selbst¬
loses Suchen des Wahren und Besten. Dadurch hat er diese eminente
Stellung eines maßgebenden Führers im Reichstag, und es giebt keine Eigen¬
schaften , durch welche diese Stellung besser verdient werden könnte. Laster
besitzt entfernt nicht die geniale Intuition Gneist's, noch dessen damit in
Wechselwirkung stehende Gelehrsamkeit, noch Gneist's architektonische Kraft.
Desto bester ist er in den nächsten praktischen Beziehungen jeder heimathlichen
und gegenwärtigen Frage zu Hause, oder arbeitet sich in dieselben hinein.
Das aber macht den eigentlichen Praktiker, ist wenigstens jedem Praktiker
unentbehrlich. Wo Laster noch nicht Zeit gehabt hat, sein emsiges Studium
der Anwendung eines Theorems auf gegebene Zustände zu beginnen. da folgt
er den Traditionen des abstracten Liberalismus oder des Fortschritts, oder
einer Autorität, die er erprobt gefunden, wie diejenige Gneist's bei der Kreis¬
ordnung. Diesmal ist ihm aber diese Autorität zum Irrlicht geworden.

Die "Vier Fragen zur deutschen Strafprozeßordnung" sind eine der in¬
teressantesten und für ihren Urheber am meisten charakteristischen Schriften von
allen, welche aus Gneist's Feder geflossen. Diese Arbeit giebt gleichsam ein
Compendtum aller Vorzüge und aller Fehler ihres ausgezeichneten Verfassers.
Aber so interessant die Schrift individuell ist und so anregend durch den
Widerspruch, den sie herausfordert, der aber nur durch allseitiges Eindringen


aber aus den oben erwähnten äußerlichen Gründen von Seiten der Reichs¬
regierung nicht gewagt worden war, da unternahm es Rudolph Gneist in
seinen „Vier Fragen zur deutschen Strafprozeßordnung" die völlige Adoption
des englischen Strafprozesses in das deutsche Rechtsleben zu empfehlen. Der
Entwurf der Strafprozeßordnung indeß, welchen der Bundesrath jetzt dem
Reichstag vorgelegt, wagt auch diesen Schritt nicht, er begnügt sich vielmehr
im Anschluß an die bisherige Praxis, um Gneist's Ausdrücke anzuwenden, mit
dem „halben Anklageprozeß, der halben Oeffemlichkeit und der halben Münd¬
lichkeit". Mit andern Worten, der Anklageprozeß ist auf ein präparatorisches
Verfahren gebaut, welches wie bisher die Oeffentlichkeit ausschließt. Ebenso
ist bei dem Hauptverfahren die Entscheidung der ungetheilten Frage durch
die Geschworenen nicht eingeführt und in Folge dessen auch hier nicht die
Leitung des Verfahrens durch die Parteien oder die Durchbildung zum
Parteiprozeß angenommen.

Diese inconsequente Gestaltung des Strafverfahrens hat nun dem Ent-
Wurf im Reichstag lebhaften Tadel zugezogen, am meisten von Seiten des
Abgeordneten Laster. Wir müssen bekennen, daß uns die geistige Abhängig¬
keit Laster's von Gneist nie so unangenehm gewesen, als in diesem Falle.
Es ist ehrenvoll, den rechten Spuren eines großen Denkers zu folgen, und
im höchsten Grade löblich, das leugnen wir am wenigsten. Laster's großes
Verdienst ist sein uneigennütziger Fleiß, sein unermüdliches Lernen, sein selbst¬
loses Suchen des Wahren und Besten. Dadurch hat er diese eminente
Stellung eines maßgebenden Führers im Reichstag, und es giebt keine Eigen¬
schaften , durch welche diese Stellung besser verdient werden könnte. Laster
besitzt entfernt nicht die geniale Intuition Gneist's, noch dessen damit in
Wechselwirkung stehende Gelehrsamkeit, noch Gneist's architektonische Kraft.
Desto bester ist er in den nächsten praktischen Beziehungen jeder heimathlichen
und gegenwärtigen Frage zu Hause, oder arbeitet sich in dieselben hinein.
Das aber macht den eigentlichen Praktiker, ist wenigstens jedem Praktiker
unentbehrlich. Wo Laster noch nicht Zeit gehabt hat, sein emsiges Studium
der Anwendung eines Theorems auf gegebene Zustände zu beginnen. da folgt
er den Traditionen des abstracten Liberalismus oder des Fortschritts, oder
einer Autorität, die er erprobt gefunden, wie diejenige Gneist's bei der Kreis¬
ordnung. Diesmal ist ihm aber diese Autorität zum Irrlicht geworden.

Die „Vier Fragen zur deutschen Strafprozeßordnung" sind eine der in¬
teressantesten und für ihren Urheber am meisten charakteristischen Schriften von
allen, welche aus Gneist's Feder geflossen. Diese Arbeit giebt gleichsam ein
Compendtum aller Vorzüge und aller Fehler ihres ausgezeichneten Verfassers.
Aber so interessant die Schrift individuell ist und so anregend durch den
Widerspruch, den sie herausfordert, der aber nur durch allseitiges Eindringen


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[0435] aber aus den oben erwähnten äußerlichen Gründen von Seiten der Reichs¬ regierung nicht gewagt worden war, da unternahm es Rudolph Gneist in seinen „Vier Fragen zur deutschen Strafprozeßordnung" die völlige Adoption des englischen Strafprozesses in das deutsche Rechtsleben zu empfehlen. Der Entwurf der Strafprozeßordnung indeß, welchen der Bundesrath jetzt dem Reichstag vorgelegt, wagt auch diesen Schritt nicht, er begnügt sich vielmehr im Anschluß an die bisherige Praxis, um Gneist's Ausdrücke anzuwenden, mit dem „halben Anklageprozeß, der halben Oeffemlichkeit und der halben Münd¬ lichkeit". Mit andern Worten, der Anklageprozeß ist auf ein präparatorisches Verfahren gebaut, welches wie bisher die Oeffentlichkeit ausschließt. Ebenso ist bei dem Hauptverfahren die Entscheidung der ungetheilten Frage durch die Geschworenen nicht eingeführt und in Folge dessen auch hier nicht die Leitung des Verfahrens durch die Parteien oder die Durchbildung zum Parteiprozeß angenommen. Diese inconsequente Gestaltung des Strafverfahrens hat nun dem Ent- Wurf im Reichstag lebhaften Tadel zugezogen, am meisten von Seiten des Abgeordneten Laster. Wir müssen bekennen, daß uns die geistige Abhängig¬ keit Laster's von Gneist nie so unangenehm gewesen, als in diesem Falle. Es ist ehrenvoll, den rechten Spuren eines großen Denkers zu folgen, und im höchsten Grade löblich, das leugnen wir am wenigsten. Laster's großes Verdienst ist sein uneigennütziger Fleiß, sein unermüdliches Lernen, sein selbst¬ loses Suchen des Wahren und Besten. Dadurch hat er diese eminente Stellung eines maßgebenden Führers im Reichstag, und es giebt keine Eigen¬ schaften , durch welche diese Stellung besser verdient werden könnte. Laster besitzt entfernt nicht die geniale Intuition Gneist's, noch dessen damit in Wechselwirkung stehende Gelehrsamkeit, noch Gneist's architektonische Kraft. Desto bester ist er in den nächsten praktischen Beziehungen jeder heimathlichen und gegenwärtigen Frage zu Hause, oder arbeitet sich in dieselben hinein. Das aber macht den eigentlichen Praktiker, ist wenigstens jedem Praktiker unentbehrlich. Wo Laster noch nicht Zeit gehabt hat, sein emsiges Studium der Anwendung eines Theorems auf gegebene Zustände zu beginnen. da folgt er den Traditionen des abstracten Liberalismus oder des Fortschritts, oder einer Autorität, die er erprobt gefunden, wie diejenige Gneist's bei der Kreis¬ ordnung. Diesmal ist ihm aber diese Autorität zum Irrlicht geworden. Die „Vier Fragen zur deutschen Strafprozeßordnung" sind eine der in¬ teressantesten und für ihren Urheber am meisten charakteristischen Schriften von allen, welche aus Gneist's Feder geflossen. Diese Arbeit giebt gleichsam ein Compendtum aller Vorzüge und aller Fehler ihres ausgezeichneten Verfassers. Aber so interessant die Schrift individuell ist und so anregend durch den Widerspruch, den sie herausfordert, der aber nur durch allseitiges Eindringen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_359154/435>, abgerufen am 28.07.2024.