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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, II. Band.

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Herbeiführung zahlloser praktischer Mißstände und unlösbarer Probleme der
theoretischen Construction, eine Unmöglichkeit. Jenes Verfahren in seinen
mancherlei Typen, die es schon allein auf dem deutschen Boden angenommen
hat, ist eine Mißbildung, beruhend auf der falschen Einsicht der Gesetzgeber
der französischen Revolution in das englische Schwurgericht und sodann auf
dem Ueberbau der falschen Einsicht der deutschen Gesetzgebung und Praxis
in die französische Gerichtsverfassung. Alle competenten Stimmen der Theorie
und Praxis sind nachgerade in Deutschland wenigstens darüber einig, daß die
Trennung der sogenannten Thatfrage von der Rechtsfrage aufgegeben werden
muß, infolge davon aber auch das ganze System der jetzigen Fragestellung
an die Geschworenen. Will man aber durch die Geschworenen die Rechts¬
frage in ihrer Totalität und in ihrer unzertrennlichen Verbindung mit der
Thatfrage entscheiden lassen, so kommt man nothwendig auf das englische
System der Rechtsbelehrung und Lenkung der Geschworenen durch den Vor¬
sitzenden Richter, welcher der einzige rechtsgelehrte Richter des Schwurgerichts¬
hofes ist. Die wirkliche Folge dieses Systems ist, wie jeder Kenner der eng¬
lischen Jury weiß, die alleinige Entscheidung durch den Richter und die
Entwickelung der Jury zu einer Staffage von Strohmännern. Das ist aber
bei weitem nicht das Schlimmste, wir hätten beinah gesagt, es ist das Beste
an der englischen Jury, Die entscheidende Stellung des Vorsitzenden Richters
macht die Leitung des Verfahrens durch denselben zur Unmöglichkeit. Die
Folge hiervon ist, daß der Prozeß ganz in die Hände der Parteien gelegt
werden muß, daß sogar die Vernehmung der Zeugen Sache der Parteien im
sogenannten Kreuzverhör wird. Eine weitere Folge ist die Oeffentlichkeit der
Voruntersuchung, die wichtigste Folge von allem aber ist die Gründung des
ganzen Verfahrens auf den Jndicienbeweis, der nun wieder das Mittel für
den Vorsitzenden wird, die Geschworenen ganz seiner Leitung zu unterwerfen.
Sowie man das System der specialisirten Fragestellung verläßt, welches in
seiner verschiedenen Handhabung, auch wenn die Beschränkung der Geschworenen
auf die Thatfrage aufgegeben wird, doch immer noch die Möglichkeit offen
läßt, einzelne bedeutende Momente der Rechtsfrage dem Gerichtshof allein zu
reserviren, sowie man also jenes System verläßt und doch das Schwurgericht
nicht verlassen will, bleibt in der That nichts als das englische System der
Durchbildung des Strafverfahrens zum Parteiprozeß. Die sittliche Anschauung
der deutschen Bildung von Recht und Rechtspflege hat sich jedoch bisher
immer gegen diese Consequenz gesträubt und nicht minder hat sich die specifisch
juristische Bildung Deutschlands gegen die Barbarei des Jndicienbeweises
gesträubt. Neuerdings aber, als bei dem Unternehmen der einheitlichen Ge¬
staltung des deutschen Strafprozesses durch das Reich die Frage des Schöffen¬
gerichts in nachhaltige Anregung gekommen, der Schritt zu dieser Reform


Herbeiführung zahlloser praktischer Mißstände und unlösbarer Probleme der
theoretischen Construction, eine Unmöglichkeit. Jenes Verfahren in seinen
mancherlei Typen, die es schon allein auf dem deutschen Boden angenommen
hat, ist eine Mißbildung, beruhend auf der falschen Einsicht der Gesetzgeber
der französischen Revolution in das englische Schwurgericht und sodann auf
dem Ueberbau der falschen Einsicht der deutschen Gesetzgebung und Praxis
in die französische Gerichtsverfassung. Alle competenten Stimmen der Theorie
und Praxis sind nachgerade in Deutschland wenigstens darüber einig, daß die
Trennung der sogenannten Thatfrage von der Rechtsfrage aufgegeben werden
muß, infolge davon aber auch das ganze System der jetzigen Fragestellung
an die Geschworenen. Will man aber durch die Geschworenen die Rechts¬
frage in ihrer Totalität und in ihrer unzertrennlichen Verbindung mit der
Thatfrage entscheiden lassen, so kommt man nothwendig auf das englische
System der Rechtsbelehrung und Lenkung der Geschworenen durch den Vor¬
sitzenden Richter, welcher der einzige rechtsgelehrte Richter des Schwurgerichts¬
hofes ist. Die wirkliche Folge dieses Systems ist, wie jeder Kenner der eng¬
lischen Jury weiß, die alleinige Entscheidung durch den Richter und die
Entwickelung der Jury zu einer Staffage von Strohmännern. Das ist aber
bei weitem nicht das Schlimmste, wir hätten beinah gesagt, es ist das Beste
an der englischen Jury, Die entscheidende Stellung des Vorsitzenden Richters
macht die Leitung des Verfahrens durch denselben zur Unmöglichkeit. Die
Folge hiervon ist, daß der Prozeß ganz in die Hände der Parteien gelegt
werden muß, daß sogar die Vernehmung der Zeugen Sache der Parteien im
sogenannten Kreuzverhör wird. Eine weitere Folge ist die Oeffentlichkeit der
Voruntersuchung, die wichtigste Folge von allem aber ist die Gründung des
ganzen Verfahrens auf den Jndicienbeweis, der nun wieder das Mittel für
den Vorsitzenden wird, die Geschworenen ganz seiner Leitung zu unterwerfen.
Sowie man das System der specialisirten Fragestellung verläßt, welches in
seiner verschiedenen Handhabung, auch wenn die Beschränkung der Geschworenen
auf die Thatfrage aufgegeben wird, doch immer noch die Möglichkeit offen
läßt, einzelne bedeutende Momente der Rechtsfrage dem Gerichtshof allein zu
reserviren, sowie man also jenes System verläßt und doch das Schwurgericht
nicht verlassen will, bleibt in der That nichts als das englische System der
Durchbildung des Strafverfahrens zum Parteiprozeß. Die sittliche Anschauung
der deutschen Bildung von Recht und Rechtspflege hat sich jedoch bisher
immer gegen diese Consequenz gesträubt und nicht minder hat sich die specifisch
juristische Bildung Deutschlands gegen die Barbarei des Jndicienbeweises
gesträubt. Neuerdings aber, als bei dem Unternehmen der einheitlichen Ge¬
staltung des deutschen Strafprozesses durch das Reich die Frage des Schöffen¬
gerichts in nachhaltige Anregung gekommen, der Schritt zu dieser Reform


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[0434] Herbeiführung zahlloser praktischer Mißstände und unlösbarer Probleme der theoretischen Construction, eine Unmöglichkeit. Jenes Verfahren in seinen mancherlei Typen, die es schon allein auf dem deutschen Boden angenommen hat, ist eine Mißbildung, beruhend auf der falschen Einsicht der Gesetzgeber der französischen Revolution in das englische Schwurgericht und sodann auf dem Ueberbau der falschen Einsicht der deutschen Gesetzgebung und Praxis in die französische Gerichtsverfassung. Alle competenten Stimmen der Theorie und Praxis sind nachgerade in Deutschland wenigstens darüber einig, daß die Trennung der sogenannten Thatfrage von der Rechtsfrage aufgegeben werden muß, infolge davon aber auch das ganze System der jetzigen Fragestellung an die Geschworenen. Will man aber durch die Geschworenen die Rechts¬ frage in ihrer Totalität und in ihrer unzertrennlichen Verbindung mit der Thatfrage entscheiden lassen, so kommt man nothwendig auf das englische System der Rechtsbelehrung und Lenkung der Geschworenen durch den Vor¬ sitzenden Richter, welcher der einzige rechtsgelehrte Richter des Schwurgerichts¬ hofes ist. Die wirkliche Folge dieses Systems ist, wie jeder Kenner der eng¬ lischen Jury weiß, die alleinige Entscheidung durch den Richter und die Entwickelung der Jury zu einer Staffage von Strohmännern. Das ist aber bei weitem nicht das Schlimmste, wir hätten beinah gesagt, es ist das Beste an der englischen Jury, Die entscheidende Stellung des Vorsitzenden Richters macht die Leitung des Verfahrens durch denselben zur Unmöglichkeit. Die Folge hiervon ist, daß der Prozeß ganz in die Hände der Parteien gelegt werden muß, daß sogar die Vernehmung der Zeugen Sache der Parteien im sogenannten Kreuzverhör wird. Eine weitere Folge ist die Oeffentlichkeit der Voruntersuchung, die wichtigste Folge von allem aber ist die Gründung des ganzen Verfahrens auf den Jndicienbeweis, der nun wieder das Mittel für den Vorsitzenden wird, die Geschworenen ganz seiner Leitung zu unterwerfen. Sowie man das System der specialisirten Fragestellung verläßt, welches in seiner verschiedenen Handhabung, auch wenn die Beschränkung der Geschworenen auf die Thatfrage aufgegeben wird, doch immer noch die Möglichkeit offen läßt, einzelne bedeutende Momente der Rechtsfrage dem Gerichtshof allein zu reserviren, sowie man also jenes System verläßt und doch das Schwurgericht nicht verlassen will, bleibt in der That nichts als das englische System der Durchbildung des Strafverfahrens zum Parteiprozeß. Die sittliche Anschauung der deutschen Bildung von Recht und Rechtspflege hat sich jedoch bisher immer gegen diese Consequenz gesträubt und nicht minder hat sich die specifisch juristische Bildung Deutschlands gegen die Barbarei des Jndicienbeweises gesträubt. Neuerdings aber, als bei dem Unternehmen der einheitlichen Ge¬ staltung des deutschen Strafprozesses durch das Reich die Frage des Schöffen¬ gerichts in nachhaltige Anregung gekommen, der Schritt zu dieser Reform

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_359154/434>, abgerufen am 28.07.2024.