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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, II. Band.

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der schon in der Bibel, auf die der Engländer doch sonst so viel gibt, so
treffend charakterisirten Volksstimme zu drehen.

Doch der Leser verzeihe diese politischen Betrachtungen, die sich mir im
Anschluß an den Eingang des Briefes unwillkürlich aufdrängten, ohne beab¬
sichtigt zu sein. Ich wollte weit harmlosere Dinge berühren und zwar zu¬
nächst einiges über die bekannte, um nicht zu sagen berüchtigte, englische
Sonntagsfeier bemerken.

Ueberall auf dem Continent ist der Sonntag nicht allein ein Tag der
Ruhe und Erholung, sondern vor allen Dingen ein Tag der Lust und des
Vergnügens, dem sich besonders die mittleren und niederen Stände voll hin¬
geben. Daß dabei dann sehr häufig von Erholung nicht viel die Rede ist
und Ausschreitungen mancherlei Art vorkommen, liegt in der Natur der
Sache. Außerdem aber ist der Sonntag auf dem Festland für eine große
Masse von Kaufleuten und Beamten nicht nur kein Ruhetag, sondern die¬
selben müssen gerade mit verdoppelter Anstrengung ihre Geschäfte und Ob¬
liegenheiten besorgen und es liegt meiner Ansicht nach ein bedeutender, aber
auch der einzige Vorzug der englischen vor der Festländischen Sonntagsfeier
darin, daß dies hier nicht der Fall ist, sondern Jedermann wirklich seinen
vollen Ruhetag hat. Es ist gewiß viel werth, wenn der Familienvater mit
Bestimmtheit daraus rechnen kann, am Sonntag sich ganz seiner Familie
hingeben zu können, wenn der Kaufmann unbesorgt darauf, etwa seine
Kundschaft an einen seiner Concurrenten zu verlieren, seine volle Sonntags¬
ruhe genießen kann, weil er weiß, daß alle seine Concurrenten deßgleichen
thun, wenn der vielgeplagte Schaffner durch das Ausfallen der Güterzüge
seinen freien Sonntag hat. In dieser Hinsicht ist die englische Einrichtung
nachahmenswert!), aber gewiß in keiner andern, denn alle sonst damit in
Verbindung stehenden Gebräuche sind so unerträglich lästig, daß eben ein auf
seine althergebrachten Einrichtungen stolzer Engländer dazu gehört, um sich
den Schein zu geben, ihrer froh zu werden, denn daß er sie selbst im Ernste
lobenswerth finde, möchte ich stark bezweifeln. An schönen Tagen ist es
uoch einigermaßen erträglich, indem wenigstens die reizenden Umgebungen
Londons für manche sonstige Entbehrung entschädigen können. Da sieht
Man denn auch Alt und Jung per Omnibus, Dampfschiff oder Eisenbahn
hinausströmen, sehr häufig das Gebetbuch in der Hand und, wie der Eng¬
länder an Werktagen während der Fahrt seine Zeitung liest, so liest er am
Sonntag im Coupe' seinen Psalm oder sein heiliges Lied, was denn oft zu
ergötzlichen Bildern führt. Es hat wirklich den Anschein, als ob ein be¬
stimmtes Quantum geistlichen Stoffes verarbeitet werden müßte und es ist
"ur gut, daß der Lokomotivführer und das sonstige Zugpersonal davon ent-


der schon in der Bibel, auf die der Engländer doch sonst so viel gibt, so
treffend charakterisirten Volksstimme zu drehen.

Doch der Leser verzeihe diese politischen Betrachtungen, die sich mir im
Anschluß an den Eingang des Briefes unwillkürlich aufdrängten, ohne beab¬
sichtigt zu sein. Ich wollte weit harmlosere Dinge berühren und zwar zu¬
nächst einiges über die bekannte, um nicht zu sagen berüchtigte, englische
Sonntagsfeier bemerken.

Ueberall auf dem Continent ist der Sonntag nicht allein ein Tag der
Ruhe und Erholung, sondern vor allen Dingen ein Tag der Lust und des
Vergnügens, dem sich besonders die mittleren und niederen Stände voll hin¬
geben. Daß dabei dann sehr häufig von Erholung nicht viel die Rede ist
und Ausschreitungen mancherlei Art vorkommen, liegt in der Natur der
Sache. Außerdem aber ist der Sonntag auf dem Festland für eine große
Masse von Kaufleuten und Beamten nicht nur kein Ruhetag, sondern die¬
selben müssen gerade mit verdoppelter Anstrengung ihre Geschäfte und Ob¬
liegenheiten besorgen und es liegt meiner Ansicht nach ein bedeutender, aber
auch der einzige Vorzug der englischen vor der Festländischen Sonntagsfeier
darin, daß dies hier nicht der Fall ist, sondern Jedermann wirklich seinen
vollen Ruhetag hat. Es ist gewiß viel werth, wenn der Familienvater mit
Bestimmtheit daraus rechnen kann, am Sonntag sich ganz seiner Familie
hingeben zu können, wenn der Kaufmann unbesorgt darauf, etwa seine
Kundschaft an einen seiner Concurrenten zu verlieren, seine volle Sonntags¬
ruhe genießen kann, weil er weiß, daß alle seine Concurrenten deßgleichen
thun, wenn der vielgeplagte Schaffner durch das Ausfallen der Güterzüge
seinen freien Sonntag hat. In dieser Hinsicht ist die englische Einrichtung
nachahmenswert!), aber gewiß in keiner andern, denn alle sonst damit in
Verbindung stehenden Gebräuche sind so unerträglich lästig, daß eben ein auf
seine althergebrachten Einrichtungen stolzer Engländer dazu gehört, um sich
den Schein zu geben, ihrer froh zu werden, denn daß er sie selbst im Ernste
lobenswerth finde, möchte ich stark bezweifeln. An schönen Tagen ist es
uoch einigermaßen erträglich, indem wenigstens die reizenden Umgebungen
Londons für manche sonstige Entbehrung entschädigen können. Da sieht
Man denn auch Alt und Jung per Omnibus, Dampfschiff oder Eisenbahn
hinausströmen, sehr häufig das Gebetbuch in der Hand und, wie der Eng¬
länder an Werktagen während der Fahrt seine Zeitung liest, so liest er am
Sonntag im Coupe' seinen Psalm oder sein heiliges Lied, was denn oft zu
ergötzlichen Bildern führt. Es hat wirklich den Anschein, als ob ein be¬
stimmtes Quantum geistlichen Stoffes verarbeitet werden müßte und es ist
"ur gut, daß der Lokomotivführer und das sonstige Zugpersonal davon ent-


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[0419] der schon in der Bibel, auf die der Engländer doch sonst so viel gibt, so treffend charakterisirten Volksstimme zu drehen. Doch der Leser verzeihe diese politischen Betrachtungen, die sich mir im Anschluß an den Eingang des Briefes unwillkürlich aufdrängten, ohne beab¬ sichtigt zu sein. Ich wollte weit harmlosere Dinge berühren und zwar zu¬ nächst einiges über die bekannte, um nicht zu sagen berüchtigte, englische Sonntagsfeier bemerken. Ueberall auf dem Continent ist der Sonntag nicht allein ein Tag der Ruhe und Erholung, sondern vor allen Dingen ein Tag der Lust und des Vergnügens, dem sich besonders die mittleren und niederen Stände voll hin¬ geben. Daß dabei dann sehr häufig von Erholung nicht viel die Rede ist und Ausschreitungen mancherlei Art vorkommen, liegt in der Natur der Sache. Außerdem aber ist der Sonntag auf dem Festland für eine große Masse von Kaufleuten und Beamten nicht nur kein Ruhetag, sondern die¬ selben müssen gerade mit verdoppelter Anstrengung ihre Geschäfte und Ob¬ liegenheiten besorgen und es liegt meiner Ansicht nach ein bedeutender, aber auch der einzige Vorzug der englischen vor der Festländischen Sonntagsfeier darin, daß dies hier nicht der Fall ist, sondern Jedermann wirklich seinen vollen Ruhetag hat. Es ist gewiß viel werth, wenn der Familienvater mit Bestimmtheit daraus rechnen kann, am Sonntag sich ganz seiner Familie hingeben zu können, wenn der Kaufmann unbesorgt darauf, etwa seine Kundschaft an einen seiner Concurrenten zu verlieren, seine volle Sonntags¬ ruhe genießen kann, weil er weiß, daß alle seine Concurrenten deßgleichen thun, wenn der vielgeplagte Schaffner durch das Ausfallen der Güterzüge seinen freien Sonntag hat. In dieser Hinsicht ist die englische Einrichtung nachahmenswert!), aber gewiß in keiner andern, denn alle sonst damit in Verbindung stehenden Gebräuche sind so unerträglich lästig, daß eben ein auf seine althergebrachten Einrichtungen stolzer Engländer dazu gehört, um sich den Schein zu geben, ihrer froh zu werden, denn daß er sie selbst im Ernste lobenswerth finde, möchte ich stark bezweifeln. An schönen Tagen ist es uoch einigermaßen erträglich, indem wenigstens die reizenden Umgebungen Londons für manche sonstige Entbehrung entschädigen können. Da sieht Man denn auch Alt und Jung per Omnibus, Dampfschiff oder Eisenbahn hinausströmen, sehr häufig das Gebetbuch in der Hand und, wie der Eng¬ länder an Werktagen während der Fahrt seine Zeitung liest, so liest er am Sonntag im Coupe' seinen Psalm oder sein heiliges Lied, was denn oft zu ergötzlichen Bildern führt. Es hat wirklich den Anschein, als ob ein be¬ stimmtes Quantum geistlichen Stoffes verarbeitet werden müßte und es ist "ur gut, daß der Lokomotivführer und das sonstige Zugpersonal davon ent-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_359154/419>, abgerufen am 27.07.2024.