Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

fassungsfrage lehnte die Regierung aber ab, unter dem Vorwand rücksichts¬
vollster Wahrung der Privilegien der souveränen Versammlung, der in der
konstitutionellen Frage das erste Wort gebühre, in der That aber, weil sie
sich vor einer Maßregel scheute, die, wenn sie nicht den Beifall der Mehrheit
gefunden hätte, die Stellung des Ministeriums in hohem Grade compromit-
ttrt haben würde. Jeder suchte dem Andern mit der Initiative auch die Ver¬
antwortung zuzuschieben, und gerade dieser Mangel an Selbstbewußtsein
und moralischem Muth war eins der schlimmsten Symptome der Erschlaffung
des öffentlichen Geistes.

Von Zeit zu Zeit sah sich Herr von Broglie allerdings genöthigt, in
der Dreißigercommission zu erscheinen, zur Eile zu mahnen und einzelne An¬
deutungen über die Wünsche der Regierung zu geben, die aber viel zu unbe¬
stimmt waren, um den unglücklichen Mitgliedern des Ausschusses als Leitstern
zu dienen. Es war dem Ausschuß wenig damit geholfen, wenn der Minister
gelegentlich erklärte, ein Oberhaus nach dem Entwürfe des Herrn Dufaure
würde noch radicaler ausfallen, als die zweite Kammer; wenn er ganz allge¬
mein andeutete, er werde es vorziehen, daß der Senat theils von der Regie¬
rung, theils von den Generalräthen, gelehrten Körperschaften u. f. w., er¬
nannt werde, wenn die Regierung über die gefährlichste aller Fragen, die
Übertragung der Gewalten hin und wieder ein dunkles Näthselwort verneh¬
men ließ. Besonders dringlich waren Broglie's Mahnungen, die Berathung
des Wahlgesetzes zu beschleunigen, und in der That hatte er alle Ursache,
über das bedächtige und bis zur Pedanterie gründliche Verfahren des Aus¬
schusses ungehalten zu sein. Zwei und zwanzig Sitzungen hatte man bereits
mit der Prüfung aller denkbaren Wahlsysteme hingebracht, ohne daß irgend
eins Gnade vor den Augen der strengen Kritiker gefunden hätte. Neue An¬
träge, z. B. von Lacombie, vermehrten nur die Verlegenheiten, unter dem
vielen Guten das Beste zu wählen. Nun erschien eines Tages Broglie im
Ausschuß, nicht nur eine bestimmte Ansicht zu äußern, nicht nur ein sie volo,
sie Mbeo zu sprechen, sondern um alle bisher gemachten Vorschläge zu kriti-
siren und die Sache von allen Seiten zu beleuchten, was der Ausschuß selbst
schon wochenlang gethan hatte. Außer den Radicalen waren so ziemlich alle
Parteien von der Verwerflichkeit des Listenscrutinismus überzeugt, natürlich
auch Herr von Broglie. Nichtsdestoweniger fiel es ihm durchaus nicht ein,
sich wenigstens über diesen Punkt klar auszusprechen, vielmehr trieb er die
Objectivität und Unparteilichkeit so weit, den Nachtheilen des Systems ge¬
wissenhaft die Vortheile gegenüber zu stellen. Als er im Laufe des Februars
wieder einmal den Ausschuß zur Eile trieb, forderte ihn Talion endlich auf,
doch selbst den Entwurf eines Wahlgesetzes einzubringen, was Broglie indessen
unbedingt ablehnte.


Grwjboten IV. 1874. 62

fassungsfrage lehnte die Regierung aber ab, unter dem Vorwand rücksichts¬
vollster Wahrung der Privilegien der souveränen Versammlung, der in der
konstitutionellen Frage das erste Wort gebühre, in der That aber, weil sie
sich vor einer Maßregel scheute, die, wenn sie nicht den Beifall der Mehrheit
gefunden hätte, die Stellung des Ministeriums in hohem Grade compromit-
ttrt haben würde. Jeder suchte dem Andern mit der Initiative auch die Ver¬
antwortung zuzuschieben, und gerade dieser Mangel an Selbstbewußtsein
und moralischem Muth war eins der schlimmsten Symptome der Erschlaffung
des öffentlichen Geistes.

Von Zeit zu Zeit sah sich Herr von Broglie allerdings genöthigt, in
der Dreißigercommission zu erscheinen, zur Eile zu mahnen und einzelne An¬
deutungen über die Wünsche der Regierung zu geben, die aber viel zu unbe¬
stimmt waren, um den unglücklichen Mitgliedern des Ausschusses als Leitstern
zu dienen. Es war dem Ausschuß wenig damit geholfen, wenn der Minister
gelegentlich erklärte, ein Oberhaus nach dem Entwürfe des Herrn Dufaure
würde noch radicaler ausfallen, als die zweite Kammer; wenn er ganz allge¬
mein andeutete, er werde es vorziehen, daß der Senat theils von der Regie¬
rung, theils von den Generalräthen, gelehrten Körperschaften u. f. w., er¬
nannt werde, wenn die Regierung über die gefährlichste aller Fragen, die
Übertragung der Gewalten hin und wieder ein dunkles Näthselwort verneh¬
men ließ. Besonders dringlich waren Broglie's Mahnungen, die Berathung
des Wahlgesetzes zu beschleunigen, und in der That hatte er alle Ursache,
über das bedächtige und bis zur Pedanterie gründliche Verfahren des Aus¬
schusses ungehalten zu sein. Zwei und zwanzig Sitzungen hatte man bereits
mit der Prüfung aller denkbaren Wahlsysteme hingebracht, ohne daß irgend
eins Gnade vor den Augen der strengen Kritiker gefunden hätte. Neue An¬
träge, z. B. von Lacombie, vermehrten nur die Verlegenheiten, unter dem
vielen Guten das Beste zu wählen. Nun erschien eines Tages Broglie im
Ausschuß, nicht nur eine bestimmte Ansicht zu äußern, nicht nur ein sie volo,
sie Mbeo zu sprechen, sondern um alle bisher gemachten Vorschläge zu kriti-
siren und die Sache von allen Seiten zu beleuchten, was der Ausschuß selbst
schon wochenlang gethan hatte. Außer den Radicalen waren so ziemlich alle
Parteien von der Verwerflichkeit des Listenscrutinismus überzeugt, natürlich
auch Herr von Broglie. Nichtsdestoweniger fiel es ihm durchaus nicht ein,
sich wenigstens über diesen Punkt klar auszusprechen, vielmehr trieb er die
Objectivität und Unparteilichkeit so weit, den Nachtheilen des Systems ge¬
wissenhaft die Vortheile gegenüber zu stellen. Als er im Laufe des Februars
wieder einmal den Ausschuß zur Eile trieb, forderte ihn Talion endlich auf,
doch selbst den Entwurf eines Wahlgesetzes einzubringen, was Broglie indessen
unbedingt ablehnte.


Grwjboten IV. 1874. 62
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0413" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/132635"/>
          <p xml:id="ID_1198" prev="#ID_1197"> fassungsfrage lehnte die Regierung aber ab, unter dem Vorwand rücksichts¬<lb/>
vollster Wahrung der Privilegien der souveränen Versammlung, der in der<lb/>
konstitutionellen Frage das erste Wort gebühre, in der That aber, weil sie<lb/>
sich vor einer Maßregel scheute, die, wenn sie nicht den Beifall der Mehrheit<lb/>
gefunden hätte, die Stellung des Ministeriums in hohem Grade compromit-<lb/>
ttrt haben würde. Jeder suchte dem Andern mit der Initiative auch die Ver¬<lb/>
antwortung zuzuschieben, und gerade dieser Mangel an Selbstbewußtsein<lb/>
und moralischem Muth war eins der schlimmsten Symptome der Erschlaffung<lb/>
des öffentlichen Geistes.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1199"> Von Zeit zu Zeit sah sich Herr von Broglie allerdings genöthigt, in<lb/>
der Dreißigercommission zu erscheinen, zur Eile zu mahnen und einzelne An¬<lb/>
deutungen über die Wünsche der Regierung zu geben, die aber viel zu unbe¬<lb/>
stimmt waren, um den unglücklichen Mitgliedern des Ausschusses als Leitstern<lb/>
zu dienen. Es war dem Ausschuß wenig damit geholfen, wenn der Minister<lb/>
gelegentlich erklärte, ein Oberhaus nach dem Entwürfe des Herrn Dufaure<lb/>
würde noch radicaler ausfallen, als die zweite Kammer; wenn er ganz allge¬<lb/>
mein andeutete, er werde es vorziehen, daß der Senat theils von der Regie¬<lb/>
rung, theils von den Generalräthen, gelehrten Körperschaften u. f. w., er¬<lb/>
nannt werde, wenn die Regierung über die gefährlichste aller Fragen, die<lb/>
Übertragung der Gewalten hin und wieder ein dunkles Näthselwort verneh¬<lb/>
men ließ. Besonders dringlich waren Broglie's Mahnungen, die Berathung<lb/>
des Wahlgesetzes zu beschleunigen, und in der That hatte er alle Ursache,<lb/>
über das bedächtige und bis zur Pedanterie gründliche Verfahren des Aus¬<lb/>
schusses ungehalten zu sein. Zwei und zwanzig Sitzungen hatte man bereits<lb/>
mit der Prüfung aller denkbaren Wahlsysteme hingebracht, ohne daß irgend<lb/>
eins Gnade vor den Augen der strengen Kritiker gefunden hätte. Neue An¬<lb/>
träge, z. B. von Lacombie, vermehrten nur die Verlegenheiten, unter dem<lb/>
vielen Guten das Beste zu wählen. Nun erschien eines Tages Broglie im<lb/>
Ausschuß, nicht nur eine bestimmte Ansicht zu äußern, nicht nur ein sie volo,<lb/>
sie Mbeo zu sprechen, sondern um alle bisher gemachten Vorschläge zu kriti-<lb/>
siren und die Sache von allen Seiten zu beleuchten, was der Ausschuß selbst<lb/>
schon wochenlang gethan hatte. Außer den Radicalen waren so ziemlich alle<lb/>
Parteien von der Verwerflichkeit des Listenscrutinismus überzeugt, natürlich<lb/>
auch Herr von Broglie. Nichtsdestoweniger fiel es ihm durchaus nicht ein,<lb/>
sich wenigstens über diesen Punkt klar auszusprechen, vielmehr trieb er die<lb/>
Objectivität und Unparteilichkeit so weit, den Nachtheilen des Systems ge¬<lb/>
wissenhaft die Vortheile gegenüber zu stellen. Als er im Laufe des Februars<lb/>
wieder einmal den Ausschuß zur Eile trieb, forderte ihn Talion endlich auf,<lb/>
doch selbst den Entwurf eines Wahlgesetzes einzubringen, was Broglie indessen<lb/>
unbedingt ablehnte.</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grwjboten IV. 1874. 62</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0413] fassungsfrage lehnte die Regierung aber ab, unter dem Vorwand rücksichts¬ vollster Wahrung der Privilegien der souveränen Versammlung, der in der konstitutionellen Frage das erste Wort gebühre, in der That aber, weil sie sich vor einer Maßregel scheute, die, wenn sie nicht den Beifall der Mehrheit gefunden hätte, die Stellung des Ministeriums in hohem Grade compromit- ttrt haben würde. Jeder suchte dem Andern mit der Initiative auch die Ver¬ antwortung zuzuschieben, und gerade dieser Mangel an Selbstbewußtsein und moralischem Muth war eins der schlimmsten Symptome der Erschlaffung des öffentlichen Geistes. Von Zeit zu Zeit sah sich Herr von Broglie allerdings genöthigt, in der Dreißigercommission zu erscheinen, zur Eile zu mahnen und einzelne An¬ deutungen über die Wünsche der Regierung zu geben, die aber viel zu unbe¬ stimmt waren, um den unglücklichen Mitgliedern des Ausschusses als Leitstern zu dienen. Es war dem Ausschuß wenig damit geholfen, wenn der Minister gelegentlich erklärte, ein Oberhaus nach dem Entwürfe des Herrn Dufaure würde noch radicaler ausfallen, als die zweite Kammer; wenn er ganz allge¬ mein andeutete, er werde es vorziehen, daß der Senat theils von der Regie¬ rung, theils von den Generalräthen, gelehrten Körperschaften u. f. w., er¬ nannt werde, wenn die Regierung über die gefährlichste aller Fragen, die Übertragung der Gewalten hin und wieder ein dunkles Näthselwort verneh¬ men ließ. Besonders dringlich waren Broglie's Mahnungen, die Berathung des Wahlgesetzes zu beschleunigen, und in der That hatte er alle Ursache, über das bedächtige und bis zur Pedanterie gründliche Verfahren des Aus¬ schusses ungehalten zu sein. Zwei und zwanzig Sitzungen hatte man bereits mit der Prüfung aller denkbaren Wahlsysteme hingebracht, ohne daß irgend eins Gnade vor den Augen der strengen Kritiker gefunden hätte. Neue An¬ träge, z. B. von Lacombie, vermehrten nur die Verlegenheiten, unter dem vielen Guten das Beste zu wählen. Nun erschien eines Tages Broglie im Ausschuß, nicht nur eine bestimmte Ansicht zu äußern, nicht nur ein sie volo, sie Mbeo zu sprechen, sondern um alle bisher gemachten Vorschläge zu kriti- siren und die Sache von allen Seiten zu beleuchten, was der Ausschuß selbst schon wochenlang gethan hatte. Außer den Radicalen waren so ziemlich alle Parteien von der Verwerflichkeit des Listenscrutinismus überzeugt, natürlich auch Herr von Broglie. Nichtsdestoweniger fiel es ihm durchaus nicht ein, sich wenigstens über diesen Punkt klar auszusprechen, vielmehr trieb er die Objectivität und Unparteilichkeit so weit, den Nachtheilen des Systems ge¬ wissenhaft die Vortheile gegenüber zu stellen. Als er im Laufe des Februars wieder einmal den Ausschuß zur Eile trieb, forderte ihn Talion endlich auf, doch selbst den Entwurf eines Wahlgesetzes einzubringen, was Broglie indessen unbedingt ablehnte. Grwjboten IV. 1874. 62

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_359154
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_359154/413
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_359154/413>, abgerufen am 28.07.2024.