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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, II. Band.

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fallor der öffentlichen Gewalten in Erwägung zu ziehen, während der
Dreißigerausschuß selbst sich an dem Wahlgesetze abarbeitete. Aber statt
Rath zu ertheilen, brachte es die Neunereommission nur dazu, Fragen aufzu¬
werfen, über welche die Gesammteommission zu entscheiden hätte. Das
"Quästionnär" der Nenner deutete eine Lösung und Entscheidung nicht einmal
an, es gab nur ein abschreckendes Bild der Schwierigkeiten, mit welchen man
zu kämpfen hatte. Welchen Titel soll der Staatschef führen? soll ein Vice-
prästdent ernannt werden? Dann eine Anzahl Fragen nach der Zusammen¬
setzung und den Befugnissen des Senats, dem Auflösungsrecht des Präsi¬
denten u. f. w. u. f. w. Alles Fragen, die hundertmal erörtert waren, und
durch deren systematische Zusammenstellung die Berathungen der Commission,
die nicht nach Problemen, sondern nach Lösungen Verlangen trug, nicht im
geringsten gefördert wurden.

Der parlamentarischen Initiative darf auch unter den günstigsten Um¬
ständen, wenn eine nicht nur im Verneinen und im Widerstande, sondern auch
in ihren Zielen einige Mehrheit vorhanden ist, nicht zu viel zugemuthet wer¬
den. Große Versammlungen, gesetzgeberische Körperschaften bedürfen der Lei¬
tung, und diese Leitung können nicht einige Parteiführer, sondern muß die
Regierung übernehmen. Versäumt sie diese Pflicht, so verliert sie die Herr¬
schaft über ihre Anhänger, und diese, im Gefühl der Rathlosigkeit und Hülf-
losigkeit, büßen den Zusammenhang unter einander und mit der Regierung
ein; die Mehrheit nutzt sich ab, zerfällt, hört auf, eine Stütze der Regie¬
rung zu sein. In wie viel höherem Grade werden aber diese Uebelstände
hervortreten müssen, wenn die sich selbst überlassene Mehrheit nur eine schein¬
bare, wenn als einziges einigendes Band nur der Haß gegen einen gemein¬
samen Feind vorhanden ist. In dieser Lage aber befand sich die Mehrheit
der französischen Nationalversammlung. Sie sollte constituiren und zerfiel in
Gruppen, deren jede ein anderes Ziel vor Augen hatte. Natürlich kam der
Ausschuß, in dem alle Gegensätze der Versammlung vertreten waren, nicht
von der Stelle; dabei drängte die Regierung, vielleicht mehr noch, um ihren
Eifer zu zeigen, als in dem aufrichtigen Wunsche, die Verfassungsarbeit
rasch zum Abschluß zu bringen. Wenigstens konnte sie sehr wohl wissen,
daß alles Drängen vergeblich sein mußte, so lange sie den Ausschuß sich
selbst überließ, und daß das einzige Mittel seine Arbeiten zu beschleunigen,
sich in der sachlichen Leitung der Versammlung bot. Mit einem Worte:
Wollte die Regierung rascher zum Ziele kommen, so mußte sie selbst die Ent¬
würfe ausarbeiten und der Versammlung, resp, dem Ausschuß zur Berathung
vorlegen. Der Erfolg einer solchen Maßregel wäre natürlich immerhin im
hohen Grade zweifelhaft gewesen; ohne dieselbe mußten aber die Arbeiten des
Ausschusses unzweifelhaft erfolglos bleiben. Jede Initiative in der Ver-


fallor der öffentlichen Gewalten in Erwägung zu ziehen, während der
Dreißigerausschuß selbst sich an dem Wahlgesetze abarbeitete. Aber statt
Rath zu ertheilen, brachte es die Neunereommission nur dazu, Fragen aufzu¬
werfen, über welche die Gesammteommission zu entscheiden hätte. Das
„Quästionnär" der Nenner deutete eine Lösung und Entscheidung nicht einmal
an, es gab nur ein abschreckendes Bild der Schwierigkeiten, mit welchen man
zu kämpfen hatte. Welchen Titel soll der Staatschef führen? soll ein Vice-
prästdent ernannt werden? Dann eine Anzahl Fragen nach der Zusammen¬
setzung und den Befugnissen des Senats, dem Auflösungsrecht des Präsi¬
denten u. f. w. u. f. w. Alles Fragen, die hundertmal erörtert waren, und
durch deren systematische Zusammenstellung die Berathungen der Commission,
die nicht nach Problemen, sondern nach Lösungen Verlangen trug, nicht im
geringsten gefördert wurden.

Der parlamentarischen Initiative darf auch unter den günstigsten Um¬
ständen, wenn eine nicht nur im Verneinen und im Widerstande, sondern auch
in ihren Zielen einige Mehrheit vorhanden ist, nicht zu viel zugemuthet wer¬
den. Große Versammlungen, gesetzgeberische Körperschaften bedürfen der Lei¬
tung, und diese Leitung können nicht einige Parteiführer, sondern muß die
Regierung übernehmen. Versäumt sie diese Pflicht, so verliert sie die Herr¬
schaft über ihre Anhänger, und diese, im Gefühl der Rathlosigkeit und Hülf-
losigkeit, büßen den Zusammenhang unter einander und mit der Regierung
ein; die Mehrheit nutzt sich ab, zerfällt, hört auf, eine Stütze der Regie¬
rung zu sein. In wie viel höherem Grade werden aber diese Uebelstände
hervortreten müssen, wenn die sich selbst überlassene Mehrheit nur eine schein¬
bare, wenn als einziges einigendes Band nur der Haß gegen einen gemein¬
samen Feind vorhanden ist. In dieser Lage aber befand sich die Mehrheit
der französischen Nationalversammlung. Sie sollte constituiren und zerfiel in
Gruppen, deren jede ein anderes Ziel vor Augen hatte. Natürlich kam der
Ausschuß, in dem alle Gegensätze der Versammlung vertreten waren, nicht
von der Stelle; dabei drängte die Regierung, vielleicht mehr noch, um ihren
Eifer zu zeigen, als in dem aufrichtigen Wunsche, die Verfassungsarbeit
rasch zum Abschluß zu bringen. Wenigstens konnte sie sehr wohl wissen,
daß alles Drängen vergeblich sein mußte, so lange sie den Ausschuß sich
selbst überließ, und daß das einzige Mittel seine Arbeiten zu beschleunigen,
sich in der sachlichen Leitung der Versammlung bot. Mit einem Worte:
Wollte die Regierung rascher zum Ziele kommen, so mußte sie selbst die Ent¬
würfe ausarbeiten und der Versammlung, resp, dem Ausschuß zur Berathung
vorlegen. Der Erfolg einer solchen Maßregel wäre natürlich immerhin im
hohen Grade zweifelhaft gewesen; ohne dieselbe mußten aber die Arbeiten des
Ausschusses unzweifelhaft erfolglos bleiben. Jede Initiative in der Ver-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_359154/412>, abgerufen am 28.07.2024.