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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, II. Band.

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Freunde daheim und ließ es in den Bach fallen. Ich klebte keine Postmarke
darauf, und so blieb es, als nicht frei gemacht, irgendwo unbefördert."

Bei den eingehenden Mittheilungen über den Staat, die Propheten und
den Glauben der Mormonen, welche die Grenzboten (1872, IV. Quartal)
gebracht haben, könnte es überflüssig erscheinen, mit Mark Twain in der
Salzstadt zu verweilen, dem ersten Orte, an dem er seit Se. Joseph mehr¬
tägigen Aufenthalt nahm. Allein jene Abhandlungen in diesen Blättern
waren ernst und gravitätisch -- soweit das bei dem Stoffe überhaupt mög¬
lich war. Mark Twain dagegen ist kaum irgendwo so lustig aufgelegt auf
seiner weiten Reise, als in der Heimath "der Heiligen vom jüngsten Tage,
der Burg der Propheten, der Hauptstadt des einzigen absoluten Alleinherr¬
schers in Amerika -- der Großen Salzsee-Stadt." "Dies war für uns nach
allen Richtungen und Beziehungen ein Märchenland, ein Land voll Zauber,
voll Kobolde und schauerlichen Geheimnissen. Wir empfanden eine Neugier, die
jedes Kind hätte fragen mögen, wie viel Mütter es habe, und ob es sie alle
einzeln aufzählen könne, und es ging uns immer durch und durch, wenn sich
an einem Wohnhause, während wir vorübergingen, die Thür öffnete oder schloß
und uns einen Blick auf menschliche Köpfe, Rücken und Schultern thun ließ;
denn wir sehnten uns sehr nach einer ordentlichen und genügenden Betrachtung
einer Mormonenfamilie in ihrer ganzen umfassenden Reichlichkeit, und geordnet
nach den concentrischen Ringen ihres häuslichen Kreises. Die Stadt liegt am
Rande einer ebnen Fläche von der Ausdehnung des Staates Connecticut und
duckt sich an den Boden unter einer sich krümmenden Wand mächtiger Berge,
deren Häupter sich unter den Wolken verbergen, und deren Schultern den
ganzen Sommer hindurch Reste des Wtnterschnees tragen. Bon einer dieser
schwindelerregenden Höhen zwölf oder fünfzehn Meilen davon gesehen, wird
die große Salzsee-Stadt matter und immer kleiner, bis sie an ein Kinder¬
spielzeug-Dörfchen erinnert, das unter dem majestätischen Schutze der chinesi¬
schen Mauer ruht. Auf einigen ^dieser Berge im Südwesten hatte es zwei-
Wochen lang jeden Tag geregnet, aber in der Stadt war kein Tropfen ge¬
fallen. Und an heißen Tagen gegen Ende des Frühlings und in den ersten
Wochen des Herbstes konnten die Bürger aufhören, sich Kühlung zuzufächeln
und zu murren, und ausgehen und sich durch Hirschauer aus einen glorreichen
Schneesturm abkühlen, der in den Bergen rumorte. Sie konnten es in diesen
Jahreszeiten jeden Tag aus der Ferne genießen, obschon in ihren Straßen
oder sonstwo in ihrer Nähe kein Schnee fiel. Die Salzsee-Stadt war gesund
-- eine über die Maßen gesunde Stadt. Sie erklärten, es gäbe nur einen
einzigen Arzt am Orte und er würde regelmäßig jede Woche zur Verantwor¬
tung gezogen, weil er "keine erkennbaren Subsistenzmittel habe". Sie geben
einem am Salzsee immer gute, solide Wahrheit zu genießen und gutes Maß


Freunde daheim und ließ es in den Bach fallen. Ich klebte keine Postmarke
darauf, und so blieb es, als nicht frei gemacht, irgendwo unbefördert."

Bei den eingehenden Mittheilungen über den Staat, die Propheten und
den Glauben der Mormonen, welche die Grenzboten (1872, IV. Quartal)
gebracht haben, könnte es überflüssig erscheinen, mit Mark Twain in der
Salzstadt zu verweilen, dem ersten Orte, an dem er seit Se. Joseph mehr¬
tägigen Aufenthalt nahm. Allein jene Abhandlungen in diesen Blättern
waren ernst und gravitätisch — soweit das bei dem Stoffe überhaupt mög¬
lich war. Mark Twain dagegen ist kaum irgendwo so lustig aufgelegt auf
seiner weiten Reise, als in der Heimath „der Heiligen vom jüngsten Tage,
der Burg der Propheten, der Hauptstadt des einzigen absoluten Alleinherr¬
schers in Amerika — der Großen Salzsee-Stadt." „Dies war für uns nach
allen Richtungen und Beziehungen ein Märchenland, ein Land voll Zauber,
voll Kobolde und schauerlichen Geheimnissen. Wir empfanden eine Neugier, die
jedes Kind hätte fragen mögen, wie viel Mütter es habe, und ob es sie alle
einzeln aufzählen könne, und es ging uns immer durch und durch, wenn sich
an einem Wohnhause, während wir vorübergingen, die Thür öffnete oder schloß
und uns einen Blick auf menschliche Köpfe, Rücken und Schultern thun ließ;
denn wir sehnten uns sehr nach einer ordentlichen und genügenden Betrachtung
einer Mormonenfamilie in ihrer ganzen umfassenden Reichlichkeit, und geordnet
nach den concentrischen Ringen ihres häuslichen Kreises. Die Stadt liegt am
Rande einer ebnen Fläche von der Ausdehnung des Staates Connecticut und
duckt sich an den Boden unter einer sich krümmenden Wand mächtiger Berge,
deren Häupter sich unter den Wolken verbergen, und deren Schultern den
ganzen Sommer hindurch Reste des Wtnterschnees tragen. Bon einer dieser
schwindelerregenden Höhen zwölf oder fünfzehn Meilen davon gesehen, wird
die große Salzsee-Stadt matter und immer kleiner, bis sie an ein Kinder¬
spielzeug-Dörfchen erinnert, das unter dem majestätischen Schutze der chinesi¬
schen Mauer ruht. Auf einigen ^dieser Berge im Südwesten hatte es zwei-
Wochen lang jeden Tag geregnet, aber in der Stadt war kein Tropfen ge¬
fallen. Und an heißen Tagen gegen Ende des Frühlings und in den ersten
Wochen des Herbstes konnten die Bürger aufhören, sich Kühlung zuzufächeln
und zu murren, und ausgehen und sich durch Hirschauer aus einen glorreichen
Schneesturm abkühlen, der in den Bergen rumorte. Sie konnten es in diesen
Jahreszeiten jeden Tag aus der Ferne genießen, obschon in ihren Straßen
oder sonstwo in ihrer Nähe kein Schnee fiel. Die Salzsee-Stadt war gesund
— eine über die Maßen gesunde Stadt. Sie erklärten, es gäbe nur einen
einzigen Arzt am Orte und er würde regelmäßig jede Woche zur Verantwor¬
tung gezogen, weil er „keine erkennbaren Subsistenzmittel habe". Sie geben
einem am Salzsee immer gute, solide Wahrheit zu genießen und gutes Maß


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[0346] Freunde daheim und ließ es in den Bach fallen. Ich klebte keine Postmarke darauf, und so blieb es, als nicht frei gemacht, irgendwo unbefördert." Bei den eingehenden Mittheilungen über den Staat, die Propheten und den Glauben der Mormonen, welche die Grenzboten (1872, IV. Quartal) gebracht haben, könnte es überflüssig erscheinen, mit Mark Twain in der Salzstadt zu verweilen, dem ersten Orte, an dem er seit Se. Joseph mehr¬ tägigen Aufenthalt nahm. Allein jene Abhandlungen in diesen Blättern waren ernst und gravitätisch — soweit das bei dem Stoffe überhaupt mög¬ lich war. Mark Twain dagegen ist kaum irgendwo so lustig aufgelegt auf seiner weiten Reise, als in der Heimath „der Heiligen vom jüngsten Tage, der Burg der Propheten, der Hauptstadt des einzigen absoluten Alleinherr¬ schers in Amerika — der Großen Salzsee-Stadt." „Dies war für uns nach allen Richtungen und Beziehungen ein Märchenland, ein Land voll Zauber, voll Kobolde und schauerlichen Geheimnissen. Wir empfanden eine Neugier, die jedes Kind hätte fragen mögen, wie viel Mütter es habe, und ob es sie alle einzeln aufzählen könne, und es ging uns immer durch und durch, wenn sich an einem Wohnhause, während wir vorübergingen, die Thür öffnete oder schloß und uns einen Blick auf menschliche Köpfe, Rücken und Schultern thun ließ; denn wir sehnten uns sehr nach einer ordentlichen und genügenden Betrachtung einer Mormonenfamilie in ihrer ganzen umfassenden Reichlichkeit, und geordnet nach den concentrischen Ringen ihres häuslichen Kreises. Die Stadt liegt am Rande einer ebnen Fläche von der Ausdehnung des Staates Connecticut und duckt sich an den Boden unter einer sich krümmenden Wand mächtiger Berge, deren Häupter sich unter den Wolken verbergen, und deren Schultern den ganzen Sommer hindurch Reste des Wtnterschnees tragen. Bon einer dieser schwindelerregenden Höhen zwölf oder fünfzehn Meilen davon gesehen, wird die große Salzsee-Stadt matter und immer kleiner, bis sie an ein Kinder¬ spielzeug-Dörfchen erinnert, das unter dem majestätischen Schutze der chinesi¬ schen Mauer ruht. Auf einigen ^dieser Berge im Südwesten hatte es zwei- Wochen lang jeden Tag geregnet, aber in der Stadt war kein Tropfen ge¬ fallen. Und an heißen Tagen gegen Ende des Frühlings und in den ersten Wochen des Herbstes konnten die Bürger aufhören, sich Kühlung zuzufächeln und zu murren, und ausgehen und sich durch Hirschauer aus einen glorreichen Schneesturm abkühlen, der in den Bergen rumorte. Sie konnten es in diesen Jahreszeiten jeden Tag aus der Ferne genießen, obschon in ihren Straßen oder sonstwo in ihrer Nähe kein Schnee fiel. Die Salzsee-Stadt war gesund — eine über die Maßen gesunde Stadt. Sie erklärten, es gäbe nur einen einzigen Arzt am Orte und er würde regelmäßig jede Woche zur Verantwor¬ tung gezogen, weil er „keine erkennbaren Subsistenzmittel habe". Sie geben einem am Salzsee immer gute, solide Wahrheit zu genießen und gutes Maß

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_359154/346>, abgerufen am 28.07.2024.