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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, II. Band.

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auch ungenossen einen Dollar pro Mann. Diese Scene giebt Twain natürlich
Gelegenheit, die damalige Mühsal seiner Reise in Vergleich zu setzen zu einer
heutigen Eisenbahnfahrt "quer über den Continent".

Alles deutet darauf hin, daß unsere Gesellschaft sich dem Ziel der langen
Reise nähert. Längst sind die sechs flinken Pferde des Postwagens mit eben¬
soviel noch rascheren Maulthieren vertauscht. Von Julesburg an drehten sich
zwei Drittel der Unterhaltung zwischen Postillonen und Condueteuren um
einen Menschen Namens Stade, der als Typus für jene wenigen Auserwähl-
ten gelten kann, die unter einer Bevölkerung von "Desperados" die Hereules¬
arbeit verrichten, einen Schimmer von Rechtsordnung zu erhalten, und der de߬
halb ringsum wie ein Halbgott verehrt und mit peinlichen Grauen angebetet
wird; denn nur durch Menschenopfer konnte er hier den Anfang friedlicher
Zustände begründen; nur durch Menschenopfer seine Autorität erhalten. Sechs¬
undzwanzig Lebenslichter hat er ausgeblasen, ehe er zu dieser Stufe des all¬
gemeinen Vertrauens sich aufschwang, auf welcher Twain ihm begegnet. Und
er verläßt Stade glücklicherweise auch in einem Zustande, in dem er blos für
sechsundzwanzig ausgeputzte Lebenslichter Rechenschaft zu geben hatte. Aber
freilich dabei bewendete es nicht und Stade war weit davon entfernt, sich
gegen das Ende seiner Laufbahn zu einer Aufnahme unter die Olympier vor¬
zubereiten. Er zog vor, sich den Trunk anzugewöhnen, und in diesem Zu¬
stande so gräulich zu toben und gemeingefährlichen Landzwang zu üben, daß
dem geheimen Vigilanz-Comite' schließlich nichts übrig blieb, als den Retter
der Gesellschaft a. D. an einem Balken aufzuhängen. Indessen gerade der
Realismus und die Naturwahrheit, mit der Stade gezeichnet ist, macht ihn
zu einem der bedeutsamsten Charaktere, denen wir auf dieser Reise begegnen-
Er erinnert uns lebhaft an Bret Harte's werthvolle Strolche.

Twain nähert sich dem Herzen der Felsengebirge, dem Südpaß, der An¬
gesichts des ewigen Schnees der nordamerikanischen Alpen überschritten wird.
Der volle Ernst, den die Ahnung der Ewigkeit, der Begriff unermeßlicher
Fernen erzeugt, tritt ihm hier auf die Lippen. "Und jetzt endlich waren wir
richtig in dem berühmten Südpasse und rollten lustig über der gemeinen
Welt hin. Wir befanden uns auf der höchsten Stelle der großen Kette der
Felsengebirge, nach der wir Tag und Nacht emporgeklettert, geduldig, unab¬
lässig emporgeklettert waren, und um uns waren Bergkönige versammelt, die
zehn, zwölf, selbst dreizehntausend Fuß hoch waren -- stolze alte Bursche,
die sich bücken müßten, wenn sie den Mount Washington im Zwielicht sehen
wollten. Wir waren in einer solchen luftigen Höhe über den dahinsiechenden
Bevölkerungen der Erde, daß es, wenn die uns die Aussicht sperrenden Fels¬
hörner zur Seite wichen, dann und wann schien, als könnten wir ringsum
weit in die Ferne sehen und den ganzen großen Erdball betrachten, wie er


auch ungenossen einen Dollar pro Mann. Diese Scene giebt Twain natürlich
Gelegenheit, die damalige Mühsal seiner Reise in Vergleich zu setzen zu einer
heutigen Eisenbahnfahrt „quer über den Continent".

Alles deutet darauf hin, daß unsere Gesellschaft sich dem Ziel der langen
Reise nähert. Längst sind die sechs flinken Pferde des Postwagens mit eben¬
soviel noch rascheren Maulthieren vertauscht. Von Julesburg an drehten sich
zwei Drittel der Unterhaltung zwischen Postillonen und Condueteuren um
einen Menschen Namens Stade, der als Typus für jene wenigen Auserwähl-
ten gelten kann, die unter einer Bevölkerung von „Desperados" die Hereules¬
arbeit verrichten, einen Schimmer von Rechtsordnung zu erhalten, und der de߬
halb ringsum wie ein Halbgott verehrt und mit peinlichen Grauen angebetet
wird; denn nur durch Menschenopfer konnte er hier den Anfang friedlicher
Zustände begründen; nur durch Menschenopfer seine Autorität erhalten. Sechs¬
undzwanzig Lebenslichter hat er ausgeblasen, ehe er zu dieser Stufe des all¬
gemeinen Vertrauens sich aufschwang, auf welcher Twain ihm begegnet. Und
er verläßt Stade glücklicherweise auch in einem Zustande, in dem er blos für
sechsundzwanzig ausgeputzte Lebenslichter Rechenschaft zu geben hatte. Aber
freilich dabei bewendete es nicht und Stade war weit davon entfernt, sich
gegen das Ende seiner Laufbahn zu einer Aufnahme unter die Olympier vor¬
zubereiten. Er zog vor, sich den Trunk anzugewöhnen, und in diesem Zu¬
stande so gräulich zu toben und gemeingefährlichen Landzwang zu üben, daß
dem geheimen Vigilanz-Comite' schließlich nichts übrig blieb, als den Retter
der Gesellschaft a. D. an einem Balken aufzuhängen. Indessen gerade der
Realismus und die Naturwahrheit, mit der Stade gezeichnet ist, macht ihn
zu einem der bedeutsamsten Charaktere, denen wir auf dieser Reise begegnen-
Er erinnert uns lebhaft an Bret Harte's werthvolle Strolche.

Twain nähert sich dem Herzen der Felsengebirge, dem Südpaß, der An¬
gesichts des ewigen Schnees der nordamerikanischen Alpen überschritten wird.
Der volle Ernst, den die Ahnung der Ewigkeit, der Begriff unermeßlicher
Fernen erzeugt, tritt ihm hier auf die Lippen. „Und jetzt endlich waren wir
richtig in dem berühmten Südpasse und rollten lustig über der gemeinen
Welt hin. Wir befanden uns auf der höchsten Stelle der großen Kette der
Felsengebirge, nach der wir Tag und Nacht emporgeklettert, geduldig, unab¬
lässig emporgeklettert waren, und um uns waren Bergkönige versammelt, die
zehn, zwölf, selbst dreizehntausend Fuß hoch waren — stolze alte Bursche,
die sich bücken müßten, wenn sie den Mount Washington im Zwielicht sehen
wollten. Wir waren in einer solchen luftigen Höhe über den dahinsiechenden
Bevölkerungen der Erde, daß es, wenn die uns die Aussicht sperrenden Fels¬
hörner zur Seite wichen, dann und wann schien, als könnten wir ringsum
weit in die Ferne sehen und den ganzen großen Erdball betrachten, wie er


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_359154/344>, abgerufen am 28.07.2024.