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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, II. Band.

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diese Wahrnehmung ließen sie sich in der Verfolgung ihrer verschlungenen,
ränkevollen Politik durchaus nicht beirren. Ihren alten Plan, den Herzog
von Aumale zum Generalissimus ernennen zu lassen, oder ihm die Präsident¬
schaft des Senats mit der Anwartschaft auf die Präsidentschaft der Republik
zu sichern, nahmen sie mit erneutem Eifer auf. Vielleicht ließ sich die Prä¬
sidentschaft der Republik in eine Statthalterschaft des Königreichs verwandeln.
Uebrigens bestand -- das ist ein Punkt, der meist übersehen wird -- schon damals
zwar nicht ein scharfer Gegensatz, aber doch ein nach und nach immer deutlicher sich
gestaltender Unterschied zwischen den eigentlichen Orleanisten und den Annalisten.
Dieser Unterschied war schon in der kühlen Haltung hervorgetreten, die Aumale
und seine Freunde während der Fusionsbewegung einnahmen, in der Zurückhal¬
tung, mit welcher dieser Prinz, während die übrigen Mitglieder und vor Allem
das Haupt des Hauses selbst wetteifernd dem Grafen von Chambord ihre Huldi¬
gungen darbrachten, eine gesonderte Stellung behauptete, wie man allgemein, und
gewiß mit Recht annahm, um für den Fall einer Niederlage der königlichen Par¬
teien sich die Möglichkeit offen zu halten, unter Umständen auch eine selbständige
Rolle zu spielen. Die Art und Weise, wie er von seinen Freunden in den Vor¬
dergrund geschoben wurde, und wie er selbst die Augen der Menge auf sich zu
lenken suchte, mußte für das Selbstgefühl des Grafen von Paris in hohem Grade
verletzend sein. War der Graf von Paris wirklich den Verlockungen des Ehr¬
geizes unzugänglich, oder war seine vornehme steife Zurückhaltung, die viel¬
fach den Eindruck der Stumpfheit und Unbehülflichkeit machte, nur eine
Maske, unter der er herrschsüchtige Pläne barg, geduldig des Augenblicks
harrend, der ihm gestatten würde, mit seiner Person für seine Ansprüche einzu¬
treten? Man wußte es nicht. Man beachtete ihn kaum, während jeder Schritt
des Herzogs von Aumale von den Parteien mit Sorgfalt überwacht wurde.

Daß Aumale nicht als Thronbewerber auftrat, daß seine Anhänger sich
vielmehr damit begnügten, Mittel und Wege ausfindig zu machen, um ihn
zum ersten Würdenträger der Republik zu erheben, war ein Zugeständniß an
die Lage der Dinge, denen man sich nicht entziehen konnte, wenn man nicht
ganz darauf verzichten wollte, ihn eine Rolle spielen zu lassen. Die Zeit der
unmittelbaren Throncandidaturen war mit dem Briefe des Grafen von Cham¬
bord fürs erste zum Abschluß gebracht worden. Das Königthum schien nur
auf einem Umwege wiederhergestellt werden zu können; die höchste Gewalt der
Republik mußte einem Prinzen in die Hände gespielt werden. Damit hätte
die Republik sich selbst bankerott erklärt. Ein Prinz als Präsident konnte
der Natur der Dinge nach nur der Vorläufer eines Königs sein. Ob Aumale
als Präsident zu seiner eigenen Herrschaft oder zu der seines Neffen den Grund
zu legen haben würde, darüber gingen auch unter seinen nächsten Freunden
wahrscheinlich die Ansichten noch auseinander. Zunächst kam es darauf an,


diese Wahrnehmung ließen sie sich in der Verfolgung ihrer verschlungenen,
ränkevollen Politik durchaus nicht beirren. Ihren alten Plan, den Herzog
von Aumale zum Generalissimus ernennen zu lassen, oder ihm die Präsident¬
schaft des Senats mit der Anwartschaft auf die Präsidentschaft der Republik
zu sichern, nahmen sie mit erneutem Eifer auf. Vielleicht ließ sich die Prä¬
sidentschaft der Republik in eine Statthalterschaft des Königreichs verwandeln.
Uebrigens bestand — das ist ein Punkt, der meist übersehen wird — schon damals
zwar nicht ein scharfer Gegensatz, aber doch ein nach und nach immer deutlicher sich
gestaltender Unterschied zwischen den eigentlichen Orleanisten und den Annalisten.
Dieser Unterschied war schon in der kühlen Haltung hervorgetreten, die Aumale
und seine Freunde während der Fusionsbewegung einnahmen, in der Zurückhal¬
tung, mit welcher dieser Prinz, während die übrigen Mitglieder und vor Allem
das Haupt des Hauses selbst wetteifernd dem Grafen von Chambord ihre Huldi¬
gungen darbrachten, eine gesonderte Stellung behauptete, wie man allgemein, und
gewiß mit Recht annahm, um für den Fall einer Niederlage der königlichen Par¬
teien sich die Möglichkeit offen zu halten, unter Umständen auch eine selbständige
Rolle zu spielen. Die Art und Weise, wie er von seinen Freunden in den Vor¬
dergrund geschoben wurde, und wie er selbst die Augen der Menge auf sich zu
lenken suchte, mußte für das Selbstgefühl des Grafen von Paris in hohem Grade
verletzend sein. War der Graf von Paris wirklich den Verlockungen des Ehr¬
geizes unzugänglich, oder war seine vornehme steife Zurückhaltung, die viel¬
fach den Eindruck der Stumpfheit und Unbehülflichkeit machte, nur eine
Maske, unter der er herrschsüchtige Pläne barg, geduldig des Augenblicks
harrend, der ihm gestatten würde, mit seiner Person für seine Ansprüche einzu¬
treten? Man wußte es nicht. Man beachtete ihn kaum, während jeder Schritt
des Herzogs von Aumale von den Parteien mit Sorgfalt überwacht wurde.

Daß Aumale nicht als Thronbewerber auftrat, daß seine Anhänger sich
vielmehr damit begnügten, Mittel und Wege ausfindig zu machen, um ihn
zum ersten Würdenträger der Republik zu erheben, war ein Zugeständniß an
die Lage der Dinge, denen man sich nicht entziehen konnte, wenn man nicht
ganz darauf verzichten wollte, ihn eine Rolle spielen zu lassen. Die Zeit der
unmittelbaren Throncandidaturen war mit dem Briefe des Grafen von Cham¬
bord fürs erste zum Abschluß gebracht worden. Das Königthum schien nur
auf einem Umwege wiederhergestellt werden zu können; die höchste Gewalt der
Republik mußte einem Prinzen in die Hände gespielt werden. Damit hätte
die Republik sich selbst bankerott erklärt. Ein Prinz als Präsident konnte
der Natur der Dinge nach nur der Vorläufer eines Königs sein. Ob Aumale
als Präsident zu seiner eigenen Herrschaft oder zu der seines Neffen den Grund
zu legen haben würde, darüber gingen auch unter seinen nächsten Freunden
wahrscheinlich die Ansichten noch auseinander. Zunächst kam es darauf an,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_359154/332>, abgerufen am 28.07.2024.