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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, II. Band.

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Beharrlichkeit des Charakters dieses Herrn Markiß während der letzten dreißig
Jahre sich als gewaltiges und unzerstörbares Zeugniß dafür erhöbe, daß jede
Behauptung, die er auszustellen beliebe, die Berechtigung und den Anspruch
darauf habe, sofort und ohne weitere Frage und Prüfung als Lüge an¬
gesehen zu werden." "Und so stand der Sarg in dem tropischen Klima von
Lahaina sieben Tage lang offen; dann aber gab ihn selbst die gesetzliebende
Jury auf." Im "Silberlaut Nevada" begegnen wir selbstverständlich noch
einer Reihe von Menschen, die in Bezug aus Wahrheitsliebe genau so ver¬
anlagt sind, wie dieser selige Markiß.

Die ungewöhnlichen Hindernisse, welche der anglo-amerikanische Geschmack
von seinen Romanhelden überwunden zu sehen wünscht, ehe sie sich kriegen,
sind von Mark Twain meisterhaft gehäuft in der kurzen Geschichte "Aurelia's
unglücklicher Bräutigam". Dieser Unglückselige geht nämlich in der Zeit
zwischen Verlobung und Hochzeit förmlich in die Brüche. Zuerst entstellen
ihn Pocken. Dann bricht er, in die Betrachtung eines Luftballons vertieft,
ein Bein, das ihm oberhalb des Knies abgenommen werden muß. Dann
folgt der eine Arm durch zu frühes Losgehen einer Kanone bei der Feier
des vierten Juli; drei Wochen später reißt ihm eine Krämpelmaschine den
andern aus. "Stück für Stück verließ Aurelia's Geliebter die Braut und sie
empfand, daß er in diesem unseligen Reductionsproeeß doch nicht ewig aus¬
reichen konnte ... sie bedauerte fast, wie Börsenmänner, welche Papiere fest¬
halten und dabei verlieren, daß sie ihn nicht gleich genommen habe, bevor er
eine so beunruhigende Entwerthung erlitten." Er verliert aber außerdem
noch ein Auge, sein anderes Bein und seinen Sealp. Das ist allmählich,
Zusammengerechnet so viel geworden, daß die Frage ernsthaft ventilirt wird,
ob es sich der Mühe lohne, den Rest zu heirathen. Aber Twain räth der
zweifelnden Braut entschieden dazu. Das Verlorene kann durch künstliche
Gliedmaßen ersetzt werden. "Es will mir nicht scheinen, Aurelia, daß damit
viel gewagt würde, weil, wenn er bei seiner höllischen Neigung verharrt, sich
jedesmal Schaden und Abbruch zu thun, wo er eine gute Gelegenheit dazu
gewahr wird, so muß sein nächster Versuch mit ihm ein Ende machen und
dann sind Sie fein heraus. . . Es würde auf Seiten Ihres Caruthers ein
glücklicher Einfall gewesen sein, wenn er mit seinem Halse angefangen und
den zuerst gebrochen hätte; da er's indessen für passend gehalten hat, eine an¬
dere Politik zu verfolgen und sich so lange als möglich auszuspinnen, so
denke ich nicht, daß wir ihn darüber schelten dürfen, wenn es ihm Vergnügen
gemacht hat." --

Von diesem packenden Humor sind alle die andern kleinen Erzählungen
dieses Bandes durchdrungen. Doch der Raum gestattet nicht, davon mehr
im Auszuge mitzutheilen. Mark Twain's Talent offenbart sich aber doch am


Grenzboten IV, 1874, 40

Beharrlichkeit des Charakters dieses Herrn Markiß während der letzten dreißig
Jahre sich als gewaltiges und unzerstörbares Zeugniß dafür erhöbe, daß jede
Behauptung, die er auszustellen beliebe, die Berechtigung und den Anspruch
darauf habe, sofort und ohne weitere Frage und Prüfung als Lüge an¬
gesehen zu werden." „Und so stand der Sarg in dem tropischen Klima von
Lahaina sieben Tage lang offen; dann aber gab ihn selbst die gesetzliebende
Jury auf." Im „Silberlaut Nevada" begegnen wir selbstverständlich noch
einer Reihe von Menschen, die in Bezug aus Wahrheitsliebe genau so ver¬
anlagt sind, wie dieser selige Markiß.

Die ungewöhnlichen Hindernisse, welche der anglo-amerikanische Geschmack
von seinen Romanhelden überwunden zu sehen wünscht, ehe sie sich kriegen,
sind von Mark Twain meisterhaft gehäuft in der kurzen Geschichte „Aurelia's
unglücklicher Bräutigam". Dieser Unglückselige geht nämlich in der Zeit
zwischen Verlobung und Hochzeit förmlich in die Brüche. Zuerst entstellen
ihn Pocken. Dann bricht er, in die Betrachtung eines Luftballons vertieft,
ein Bein, das ihm oberhalb des Knies abgenommen werden muß. Dann
folgt der eine Arm durch zu frühes Losgehen einer Kanone bei der Feier
des vierten Juli; drei Wochen später reißt ihm eine Krämpelmaschine den
andern aus. „Stück für Stück verließ Aurelia's Geliebter die Braut und sie
empfand, daß er in diesem unseligen Reductionsproeeß doch nicht ewig aus¬
reichen konnte ... sie bedauerte fast, wie Börsenmänner, welche Papiere fest¬
halten und dabei verlieren, daß sie ihn nicht gleich genommen habe, bevor er
eine so beunruhigende Entwerthung erlitten." Er verliert aber außerdem
noch ein Auge, sein anderes Bein und seinen Sealp. Das ist allmählich,
Zusammengerechnet so viel geworden, daß die Frage ernsthaft ventilirt wird,
ob es sich der Mühe lohne, den Rest zu heirathen. Aber Twain räth der
zweifelnden Braut entschieden dazu. Das Verlorene kann durch künstliche
Gliedmaßen ersetzt werden. „Es will mir nicht scheinen, Aurelia, daß damit
viel gewagt würde, weil, wenn er bei seiner höllischen Neigung verharrt, sich
jedesmal Schaden und Abbruch zu thun, wo er eine gute Gelegenheit dazu
gewahr wird, so muß sein nächster Versuch mit ihm ein Ende machen und
dann sind Sie fein heraus. . . Es würde auf Seiten Ihres Caruthers ein
glücklicher Einfall gewesen sein, wenn er mit seinem Halse angefangen und
den zuerst gebrochen hätte; da er's indessen für passend gehalten hat, eine an¬
dere Politik zu verfolgen und sich so lange als möglich auszuspinnen, so
denke ich nicht, daß wir ihn darüber schelten dürfen, wenn es ihm Vergnügen
gemacht hat." —

Von diesem packenden Humor sind alle die andern kleinen Erzählungen
dieses Bandes durchdrungen. Doch der Raum gestattet nicht, davon mehr
im Auszuge mitzutheilen. Mark Twain's Talent offenbart sich aber doch am


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[0317] Beharrlichkeit des Charakters dieses Herrn Markiß während der letzten dreißig Jahre sich als gewaltiges und unzerstörbares Zeugniß dafür erhöbe, daß jede Behauptung, die er auszustellen beliebe, die Berechtigung und den Anspruch darauf habe, sofort und ohne weitere Frage und Prüfung als Lüge an¬ gesehen zu werden." „Und so stand der Sarg in dem tropischen Klima von Lahaina sieben Tage lang offen; dann aber gab ihn selbst die gesetzliebende Jury auf." Im „Silberlaut Nevada" begegnen wir selbstverständlich noch einer Reihe von Menschen, die in Bezug aus Wahrheitsliebe genau so ver¬ anlagt sind, wie dieser selige Markiß. Die ungewöhnlichen Hindernisse, welche der anglo-amerikanische Geschmack von seinen Romanhelden überwunden zu sehen wünscht, ehe sie sich kriegen, sind von Mark Twain meisterhaft gehäuft in der kurzen Geschichte „Aurelia's unglücklicher Bräutigam". Dieser Unglückselige geht nämlich in der Zeit zwischen Verlobung und Hochzeit förmlich in die Brüche. Zuerst entstellen ihn Pocken. Dann bricht er, in die Betrachtung eines Luftballons vertieft, ein Bein, das ihm oberhalb des Knies abgenommen werden muß. Dann folgt der eine Arm durch zu frühes Losgehen einer Kanone bei der Feier des vierten Juli; drei Wochen später reißt ihm eine Krämpelmaschine den andern aus. „Stück für Stück verließ Aurelia's Geliebter die Braut und sie empfand, daß er in diesem unseligen Reductionsproeeß doch nicht ewig aus¬ reichen konnte ... sie bedauerte fast, wie Börsenmänner, welche Papiere fest¬ halten und dabei verlieren, daß sie ihn nicht gleich genommen habe, bevor er eine so beunruhigende Entwerthung erlitten." Er verliert aber außerdem noch ein Auge, sein anderes Bein und seinen Sealp. Das ist allmählich, Zusammengerechnet so viel geworden, daß die Frage ernsthaft ventilirt wird, ob es sich der Mühe lohne, den Rest zu heirathen. Aber Twain räth der zweifelnden Braut entschieden dazu. Das Verlorene kann durch künstliche Gliedmaßen ersetzt werden. „Es will mir nicht scheinen, Aurelia, daß damit viel gewagt würde, weil, wenn er bei seiner höllischen Neigung verharrt, sich jedesmal Schaden und Abbruch zu thun, wo er eine gute Gelegenheit dazu gewahr wird, so muß sein nächster Versuch mit ihm ein Ende machen und dann sind Sie fein heraus. . . Es würde auf Seiten Ihres Caruthers ein glücklicher Einfall gewesen sein, wenn er mit seinem Halse angefangen und den zuerst gebrochen hätte; da er's indessen für passend gehalten hat, eine an¬ dere Politik zu verfolgen und sich so lange als möglich auszuspinnen, so denke ich nicht, daß wir ihn darüber schelten dürfen, wenn es ihm Vergnügen gemacht hat." — Von diesem packenden Humor sind alle die andern kleinen Erzählungen dieses Bandes durchdrungen. Doch der Raum gestattet nicht, davon mehr im Auszuge mitzutheilen. Mark Twain's Talent offenbart sich aber doch am Grenzboten IV, 1874, 40

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_359154/317>, abgerufen am 27.07.2024.