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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, II. Band.

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überreden brauchte, die Franzosen seien das erste Volk der Welt und Louis XIV.
der größte König. Seine Absicht war vielmehr, die Gebrechen seines Vater¬
landes an das Licht zu ziehen, denn er hoffte eine neue Blüthe Frankreichs
aus dessen eigenem Schooß. Ganz verderblich erschien ihm auch bei dieser
objectiven Untersuchung der religiöse Zustand Frankreichs. Nicht mehr durch
leidenschaftliche Angriffe auf den Klerus wie in der Henriade, sondern durch die
Darlegung der historischen Entwickelung der kirchlichen Verhältnisse in Frank¬
reich, sucht er sein Publikum über die höhere Anschauung aufzuklären, die er
hier einnimmt. In der Henriade hatte er den Calvinismus roh von sich ge¬
wiesen , wie eine Krankheit schlimmer Art, wie absolutes Nichtsein. Hier sagt
er vom Protestantismus, den die deutschen Reichsstädte angenommen hatten,
er erscheine "plus oonvenable guf ig. röligion catlwliqus s, ass xeuples
loux 6<z tour lidertk. Und über die Entstehung und die Nothwendigkeit des
Protestantismus überhaupt urtheilt er so ruhig, wie ein Protestant selbst.
Die große Idee Voltaire's, die sich bei ihm erst allmählich in allen ihren
Consequenzen entwickelte, auf die hin er Schule und Partei bildete, die To¬
leranz, entspringt dieser historischen Arbeit. Er faßt sie so activ als möglich.
Er verlangt Bekämpfung der Intoleranz und handelt danach. Er gelangt
in dieser Forderung von selbst dazu, das größte Zeitalter, dessen sich Frank¬
reich bis dahin rühmte, für eine Epoche des Niederganges zu halten. Aber
er glaubte darum keineswegs an die furchtbare Katastrophe der französischen
Revolution, welche seit beinahe zweitausend Jahren zum ersten Mal wieder
das alte keltische Volkselement an die Oberfläche brachte, sondern er hoffte,
daß die alte gute französische Gesellschaft wieder in sich selbst die Kraft finden
werde, eine neue Zeit, das wirklich goldene Zeitalter für Frankreich herauf-
zuführen. Er hat sich furchtbar getäuscht.

Von selbst, meint Herman Grimm, führt Voltaire's Liöols ac I^ouis XIV.
Zu Friedrich dem Großen, da der Verfasser während seines zweiten Aufent¬
haltes in Berlin und Potsdam zumeist damit beschäftigt war. "Den letzten
Stempel empfing es durch den Einfluß Friedrich's des Großen." Vol¬
taire bedürfte überhaupt einer festen Stellung außerhalb Frankreichs.
In England hatte er als Flüchtling ein Asyl, sich und seinen Schriften
treue Freunde gewonnen. In den Niederlanden! wurden seine Bücher
gedruckt. Immer weiter strebte er im Ausland nach Anknüpfungspunkten,
um den Wankelmuth der Pariser im gegebenen Falle "ein auf dem Ur¬
theile des übrigen Europas beruhendes Renommee als Gorgonenhaupt
entgegenzuhalten: weder ihnen noch dem Hofe von Versailles durfte je der
Gedanke aufsteigen, Voltaire liege daran, ob man ihn mit freundlichen oder
scheelen Blicken ansehe, oder gar ihm den Rücken zudrehe. Seine Schwäche
aber war, daß er das Geschwätz der Pariser nicht entbehren konnte und wie


überreden brauchte, die Franzosen seien das erste Volk der Welt und Louis XIV.
der größte König. Seine Absicht war vielmehr, die Gebrechen seines Vater¬
landes an das Licht zu ziehen, denn er hoffte eine neue Blüthe Frankreichs
aus dessen eigenem Schooß. Ganz verderblich erschien ihm auch bei dieser
objectiven Untersuchung der religiöse Zustand Frankreichs. Nicht mehr durch
leidenschaftliche Angriffe auf den Klerus wie in der Henriade, sondern durch die
Darlegung der historischen Entwickelung der kirchlichen Verhältnisse in Frank¬
reich, sucht er sein Publikum über die höhere Anschauung aufzuklären, die er
hier einnimmt. In der Henriade hatte er den Calvinismus roh von sich ge¬
wiesen , wie eine Krankheit schlimmer Art, wie absolutes Nichtsein. Hier sagt
er vom Protestantismus, den die deutschen Reichsstädte angenommen hatten,
er erscheine „plus oonvenable guf ig. röligion catlwliqus s, ass xeuples
loux 6<z tour lidertk. Und über die Entstehung und die Nothwendigkeit des
Protestantismus überhaupt urtheilt er so ruhig, wie ein Protestant selbst.
Die große Idee Voltaire's, die sich bei ihm erst allmählich in allen ihren
Consequenzen entwickelte, auf die hin er Schule und Partei bildete, die To¬
leranz, entspringt dieser historischen Arbeit. Er faßt sie so activ als möglich.
Er verlangt Bekämpfung der Intoleranz und handelt danach. Er gelangt
in dieser Forderung von selbst dazu, das größte Zeitalter, dessen sich Frank¬
reich bis dahin rühmte, für eine Epoche des Niederganges zu halten. Aber
er glaubte darum keineswegs an die furchtbare Katastrophe der französischen
Revolution, welche seit beinahe zweitausend Jahren zum ersten Mal wieder
das alte keltische Volkselement an die Oberfläche brachte, sondern er hoffte,
daß die alte gute französische Gesellschaft wieder in sich selbst die Kraft finden
werde, eine neue Zeit, das wirklich goldene Zeitalter für Frankreich herauf-
zuführen. Er hat sich furchtbar getäuscht.

Von selbst, meint Herman Grimm, führt Voltaire's Liöols ac I^ouis XIV.
Zu Friedrich dem Großen, da der Verfasser während seines zweiten Aufent¬
haltes in Berlin und Potsdam zumeist damit beschäftigt war. „Den letzten
Stempel empfing es durch den Einfluß Friedrich's des Großen." Vol¬
taire bedürfte überhaupt einer festen Stellung außerhalb Frankreichs.
In England hatte er als Flüchtling ein Asyl, sich und seinen Schriften
treue Freunde gewonnen. In den Niederlanden! wurden seine Bücher
gedruckt. Immer weiter strebte er im Ausland nach Anknüpfungspunkten,
um den Wankelmuth der Pariser im gegebenen Falle „ein auf dem Ur¬
theile des übrigen Europas beruhendes Renommee als Gorgonenhaupt
entgegenzuhalten: weder ihnen noch dem Hofe von Versailles durfte je der
Gedanke aufsteigen, Voltaire liege daran, ob man ihn mit freundlichen oder
scheelen Blicken ansehe, oder gar ihm den Rücken zudrehe. Seine Schwäche
aber war, daß er das Geschwätz der Pariser nicht entbehren konnte und wie


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_359154/17>, abgerufen am 27.07.2024.