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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, II. Band.

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Dame bei ihren späteren Schicksalen so nützlich als möglich zu machen. Dei
Sphinx wird zu einer Art von entsprungenen Menagerieraubthier, das Oedi-
pus wieder einfängt u> s. w. Und diese Unfähigkeit zu charakterisiren, weisen
auch seine berühmtesten Dichtungen und Dramen auf: Mahomet, Zaire, Tan-
cred und die Henriade. Grimm führt an einer Stelle des Mahomet in in¬
teressantester Weise aus, wie Goethe "umrißlose Allgemeinheiten Voltaire's
zu festen Anschauungen zusammenballt, und Verse frei erfindet, durch welche
endlich Licht und Schatten in das Gemälde gebracht wird. Das war es, was
Voltaire fehlte. ... Es ist mir nicht geglückt, irgendwo bei ihm ein paar
Sätze, Verse oder Prosa, zu entdecken, welche ein Bild lieferten!" Selbst da
nicht, wo er eine bestimmte Gegend schildern will. "Am wunderlichsten jedoch
tritt dieser Mangel, malerisch auf die Phantasie zu wirken, in seinem großen
Heldengedicht, der Henriade, zu Tage." Bekanntlich stellte sich Voltaire selbst
hauptsächlich wegen seiner Henriade "so einfach und bescheiden" auf einen
Platz, in Betreff dessen er der Nachwelt nur die Wahl überließ, ihn selbst
zwischen Homer, Virgil, Tasso und Milton zu rangiren. Ja, an andern
Stellen ist auch diese Wahl nicht mehr gelassen. Voltaire hält es für so aus¬
gemacht, "daß seine Zeit die Blüthe der Jahrtausende und er der Dichter
aller Dichter sei. daß er davon wie von einer selbstverständlichen Sache redet,
bei der Bescheidenheit oder Unbescheidenheit gar nicht ins Spiel kam." Grimm
zeigt nun. wie wenig die Henriade gerade dazu angethan ist, den Dichter
derselben zu dem Anspruch aus Dichterruhm zu berechtigen. Selbst die Wahl
des Stoffes ist nicht sein Eigenthum. Armselig, wie immer bei Voltaire,
zeigt sich die Charakteristik. Wo in Handlungen oder in den Gemüthern be¬
deutender Umschwung eintritt, erscheint unausbleiblich eine der zahllosen alle¬
gorischen Figuren dieser Epopöe, welche die unerklärliche Peripetie bei dem Hel¬
den ohne Murren durchsetzt, bald die "Discorde". bald die "Frömmigkeit", bald
Infame", im entscheidenden Augenblicke sogar der heilige Ludwig in Person.
Für die nothwendigen erzählenden Episoden und die Glorification des regie¬
renden Herrscherhauses bieten Odyssee und Aeneis bequeme Vorbilder. Alle
diese Schwächen trägt Grimm mit feinem Humor vor.

Aber der innere Grund seines eingehenden Verweilens bei der Henriade,
welche "unter sehr Vielen, bei denen ich anfragte, nur ein Einziger gelesen zu
haben erklärte", ist weniger die Absicht, die geringe Bedeutung des dichte¬
rischen Talentes Voltaire's nachzuweisen. Vielmehr leitet dieses Gedicht von
selbst über zur zweiten Aufgabe, die sich Grimm stellt: die Charakteristik
Voltaire's als Geschichtsschreiber und zeigt uns an der Henriade bereits die
hervorragendsten Eigenschaften und Absichten des Historikers Voltaire. Das
ist keine Willkür des Essayisten, die wir dem leicht geschürzten Gewand seiner
Darstellung zu Gute zu rechnen genöthigt waren. Denn die Henriade hat


Dame bei ihren späteren Schicksalen so nützlich als möglich zu machen. Dei
Sphinx wird zu einer Art von entsprungenen Menagerieraubthier, das Oedi-
pus wieder einfängt u> s. w. Und diese Unfähigkeit zu charakterisiren, weisen
auch seine berühmtesten Dichtungen und Dramen auf: Mahomet, Zaire, Tan-
cred und die Henriade. Grimm führt an einer Stelle des Mahomet in in¬
teressantester Weise aus, wie Goethe „umrißlose Allgemeinheiten Voltaire's
zu festen Anschauungen zusammenballt, und Verse frei erfindet, durch welche
endlich Licht und Schatten in das Gemälde gebracht wird. Das war es, was
Voltaire fehlte. ... Es ist mir nicht geglückt, irgendwo bei ihm ein paar
Sätze, Verse oder Prosa, zu entdecken, welche ein Bild lieferten!" Selbst da
nicht, wo er eine bestimmte Gegend schildern will. „Am wunderlichsten jedoch
tritt dieser Mangel, malerisch auf die Phantasie zu wirken, in seinem großen
Heldengedicht, der Henriade, zu Tage." Bekanntlich stellte sich Voltaire selbst
hauptsächlich wegen seiner Henriade „so einfach und bescheiden" auf einen
Platz, in Betreff dessen er der Nachwelt nur die Wahl überließ, ihn selbst
zwischen Homer, Virgil, Tasso und Milton zu rangiren. Ja, an andern
Stellen ist auch diese Wahl nicht mehr gelassen. Voltaire hält es für so aus¬
gemacht, „daß seine Zeit die Blüthe der Jahrtausende und er der Dichter
aller Dichter sei. daß er davon wie von einer selbstverständlichen Sache redet,
bei der Bescheidenheit oder Unbescheidenheit gar nicht ins Spiel kam." Grimm
zeigt nun. wie wenig die Henriade gerade dazu angethan ist, den Dichter
derselben zu dem Anspruch aus Dichterruhm zu berechtigen. Selbst die Wahl
des Stoffes ist nicht sein Eigenthum. Armselig, wie immer bei Voltaire,
zeigt sich die Charakteristik. Wo in Handlungen oder in den Gemüthern be¬
deutender Umschwung eintritt, erscheint unausbleiblich eine der zahllosen alle¬
gorischen Figuren dieser Epopöe, welche die unerklärliche Peripetie bei dem Hel¬
den ohne Murren durchsetzt, bald die „Discorde". bald die „Frömmigkeit", bald
Infame", im entscheidenden Augenblicke sogar der heilige Ludwig in Person.
Für die nothwendigen erzählenden Episoden und die Glorification des regie¬
renden Herrscherhauses bieten Odyssee und Aeneis bequeme Vorbilder. Alle
diese Schwächen trägt Grimm mit feinem Humor vor.

Aber der innere Grund seines eingehenden Verweilens bei der Henriade,
welche „unter sehr Vielen, bei denen ich anfragte, nur ein Einziger gelesen zu
haben erklärte", ist weniger die Absicht, die geringe Bedeutung des dichte¬
rischen Talentes Voltaire's nachzuweisen. Vielmehr leitet dieses Gedicht von
selbst über zur zweiten Aufgabe, die sich Grimm stellt: die Charakteristik
Voltaire's als Geschichtsschreiber und zeigt uns an der Henriade bereits die
hervorragendsten Eigenschaften und Absichten des Historikers Voltaire. Das
ist keine Willkür des Essayisten, die wir dem leicht geschürzten Gewand seiner
Darstellung zu Gute zu rechnen genöthigt waren. Denn die Henriade hat


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_359154/14>, abgerufen am 27.07.2024.