Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

wunderbares Zusammentreffen der verschiedensten Umstände. Zunächst schrieb
Voltaire für Paris d. h. für den Geschmack der Stadt, deren Bewohner da¬
mals als die bevorzugten Vertreter der gebildetsten Nation galten. Er wußte
sich auf das vollständigste mit diesem Geschmack zu verschmelzen -- ohne
daß er ihn etwa zu erheben oder zu läutern gestrebt hätte -- so vollstän¬
dig, daß Voltaire auch damals sicher war, die allgemeine Aufmerksamkeit
der Pariser sich und seinen neuesten Schriften wochenlang zuzuwenden, als er
jahrelang in theils erzwungener Abwesenheit in England, theils in freiwilliger
bei Friedrich dem Großen in Berlin und Potsdam lebte. Indessen hätte
wohl diese Vertrautheit mit dem Geschmacks-, Interessen- und Bildungskreis
der Pariser nicht ausgereicht, ihm für soviele Jahrzehnte unbestritten die
Palme zu verschaffen, wenn er nicht zugleich im höchsten Maße die Sprache
der besten französischen Gesellschaft und Schriftsteller in seiner Gewalt gehabt
hätte. "Zu der Zeit, wo Voltaire auftrat, war die Sprache zu einem In¬
strumente und solcher Feinheit geworden, daß das Erscheinen eines Mannes,
der sich desselben nur mit voller Kraft bediente, eine Art Forderung an das
schöpferische Genie der Nation war. Man konnte sagen: ein Mann wie
Voltaire mußte schließlich kommen." Hundert Jahre hatten an dieser Ent¬
wickelung gearbeitet, seit Corneille zuerst aufgetreten war. Racine, Moliere
hatten in ihrer Weise dazu geholfen, und dennoch konnte noch ein Kritiker
wie Boileau daran zweifeln, ob es möglich sei, sich überhaupt correct fran¬
zösisch auszudrücken. Ganz Paris war etwa von demselben kritischen Geiste
beseelt. Jeder suchte an seinem Theile sich im besten Französisch zu üben.
Um 1700 etwa schrieb Allewelt in Paris: Hohe Herren und Kammerdiener,
Damen und Cavaliere; in Prosa und in Versen: galante oder satirische Ge¬
dichte, Episteln, Memoiren, Komödien, Tragödien, Liebesbriefe. Alles wurde
im Manuscript gelesen, kritisirt, gedruckt wenig. Wer damals in Paris auf¬
treten durfte "mit dem Anspruch, daß man Notiz von ihm nehme, hatte
etwas von einem Auserwählten an sich." Voltaire erhob diesen Anspruch,
denn er hatte wie keiner vor ihm die höchste Meisterschaft in der Handhabung
und Uebung seiner Sprache sich angeeignet und hat sie bis an sein Ende behaup¬
tete. -- Als dritter Factor seiner unbestrittenen einsamen Größe kam hinzu
die Tendenz seiner Schriften. "Der allgemeinen europäischen Gesellschaft war
damals nur darum zu thun, so gut als möglich sich Musik zu schaffen, nach
der man tanzen könne. Die Langeweile zu bekämpfen war Jedermanns erste
Sorge. In welch ungeheuerem Course mußte damals der Werth eines
Mannes stehen, dem gegenüber, wo er eingriff mit seinem Geiste die Lange¬
weile verschwand wie durch Hexerei, der alles was sein Geist berührte, zum
amüsantesten Spielzeug für die Menschheit gestaltete, Jahr auf Jahr, und so
weiter Generationen hindurch! Die geringsten Nichtigkeiten wußte Voltaire


wunderbares Zusammentreffen der verschiedensten Umstände. Zunächst schrieb
Voltaire für Paris d. h. für den Geschmack der Stadt, deren Bewohner da¬
mals als die bevorzugten Vertreter der gebildetsten Nation galten. Er wußte
sich auf das vollständigste mit diesem Geschmack zu verschmelzen — ohne
daß er ihn etwa zu erheben oder zu läutern gestrebt hätte — so vollstän¬
dig, daß Voltaire auch damals sicher war, die allgemeine Aufmerksamkeit
der Pariser sich und seinen neuesten Schriften wochenlang zuzuwenden, als er
jahrelang in theils erzwungener Abwesenheit in England, theils in freiwilliger
bei Friedrich dem Großen in Berlin und Potsdam lebte. Indessen hätte
wohl diese Vertrautheit mit dem Geschmacks-, Interessen- und Bildungskreis
der Pariser nicht ausgereicht, ihm für soviele Jahrzehnte unbestritten die
Palme zu verschaffen, wenn er nicht zugleich im höchsten Maße die Sprache
der besten französischen Gesellschaft und Schriftsteller in seiner Gewalt gehabt
hätte. „Zu der Zeit, wo Voltaire auftrat, war die Sprache zu einem In¬
strumente und solcher Feinheit geworden, daß das Erscheinen eines Mannes,
der sich desselben nur mit voller Kraft bediente, eine Art Forderung an das
schöpferische Genie der Nation war. Man konnte sagen: ein Mann wie
Voltaire mußte schließlich kommen." Hundert Jahre hatten an dieser Ent¬
wickelung gearbeitet, seit Corneille zuerst aufgetreten war. Racine, Moliere
hatten in ihrer Weise dazu geholfen, und dennoch konnte noch ein Kritiker
wie Boileau daran zweifeln, ob es möglich sei, sich überhaupt correct fran¬
zösisch auszudrücken. Ganz Paris war etwa von demselben kritischen Geiste
beseelt. Jeder suchte an seinem Theile sich im besten Französisch zu üben.
Um 1700 etwa schrieb Allewelt in Paris: Hohe Herren und Kammerdiener,
Damen und Cavaliere; in Prosa und in Versen: galante oder satirische Ge¬
dichte, Episteln, Memoiren, Komödien, Tragödien, Liebesbriefe. Alles wurde
im Manuscript gelesen, kritisirt, gedruckt wenig. Wer damals in Paris auf¬
treten durfte „mit dem Anspruch, daß man Notiz von ihm nehme, hatte
etwas von einem Auserwählten an sich." Voltaire erhob diesen Anspruch,
denn er hatte wie keiner vor ihm die höchste Meisterschaft in der Handhabung
und Uebung seiner Sprache sich angeeignet und hat sie bis an sein Ende behaup¬
tete. — Als dritter Factor seiner unbestrittenen einsamen Größe kam hinzu
die Tendenz seiner Schriften. „Der allgemeinen europäischen Gesellschaft war
damals nur darum zu thun, so gut als möglich sich Musik zu schaffen, nach
der man tanzen könne. Die Langeweile zu bekämpfen war Jedermanns erste
Sorge. In welch ungeheuerem Course mußte damals der Werth eines
Mannes stehen, dem gegenüber, wo er eingriff mit seinem Geiste die Lange¬
weile verschwand wie durch Hexerei, der alles was sein Geist berührte, zum
amüsantesten Spielzeug für die Menschheit gestaltete, Jahr auf Jahr, und so
weiter Generationen hindurch! Die geringsten Nichtigkeiten wußte Voltaire


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0012" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/132234"/>
          <p xml:id="ID_17" prev="#ID_16" next="#ID_18"> wunderbares Zusammentreffen der verschiedensten Umstände. Zunächst schrieb<lb/>
Voltaire für Paris d. h. für den Geschmack der Stadt, deren Bewohner da¬<lb/>
mals als die bevorzugten Vertreter der gebildetsten Nation galten. Er wußte<lb/>
sich auf das vollständigste mit diesem Geschmack zu verschmelzen &#x2014; ohne<lb/>
daß er ihn etwa zu erheben oder zu läutern gestrebt hätte &#x2014; so vollstän¬<lb/>
dig, daß Voltaire auch damals sicher war, die allgemeine Aufmerksamkeit<lb/>
der Pariser sich und seinen neuesten Schriften wochenlang zuzuwenden, als er<lb/>
jahrelang in theils erzwungener Abwesenheit in England, theils in freiwilliger<lb/>
bei Friedrich dem Großen in Berlin und Potsdam lebte. Indessen hätte<lb/>
wohl diese Vertrautheit mit dem Geschmacks-, Interessen- und Bildungskreis<lb/>
der Pariser nicht ausgereicht, ihm für soviele Jahrzehnte unbestritten die<lb/>
Palme zu verschaffen, wenn er nicht zugleich im höchsten Maße die Sprache<lb/>
der besten französischen Gesellschaft und Schriftsteller in seiner Gewalt gehabt<lb/>
hätte. &#x201E;Zu der Zeit, wo Voltaire auftrat, war die Sprache zu einem In¬<lb/>
strumente und solcher Feinheit geworden, daß das Erscheinen eines Mannes,<lb/>
der sich desselben nur mit voller Kraft bediente, eine Art Forderung an das<lb/>
schöpferische Genie der Nation war. Man konnte sagen: ein Mann wie<lb/>
Voltaire mußte schließlich kommen." Hundert Jahre hatten an dieser Ent¬<lb/>
wickelung gearbeitet, seit Corneille zuerst aufgetreten war. Racine, Moliere<lb/>
hatten in ihrer Weise dazu geholfen, und dennoch konnte noch ein Kritiker<lb/>
wie Boileau daran zweifeln, ob es möglich sei, sich überhaupt correct fran¬<lb/>
zösisch auszudrücken. Ganz Paris war etwa von demselben kritischen Geiste<lb/>
beseelt. Jeder suchte an seinem Theile sich im besten Französisch zu üben.<lb/>
Um 1700 etwa schrieb Allewelt in Paris: Hohe Herren und Kammerdiener,<lb/>
Damen und Cavaliere; in Prosa und in Versen: galante oder satirische Ge¬<lb/>
dichte, Episteln, Memoiren, Komödien, Tragödien, Liebesbriefe. Alles wurde<lb/>
im Manuscript gelesen, kritisirt, gedruckt wenig. Wer damals in Paris auf¬<lb/>
treten durfte &#x201E;mit dem Anspruch, daß man Notiz von ihm nehme, hatte<lb/>
etwas von einem Auserwählten an sich." Voltaire erhob diesen Anspruch,<lb/>
denn er hatte wie keiner vor ihm die höchste Meisterschaft in der Handhabung<lb/>
und Uebung seiner Sprache sich angeeignet und hat sie bis an sein Ende behaup¬<lb/>
tete. &#x2014; Als dritter Factor seiner unbestrittenen einsamen Größe kam hinzu<lb/>
die Tendenz seiner Schriften. &#x201E;Der allgemeinen europäischen Gesellschaft war<lb/>
damals nur darum zu thun, so gut als möglich sich Musik zu schaffen, nach<lb/>
der man tanzen könne. Die Langeweile zu bekämpfen war Jedermanns erste<lb/>
Sorge. In welch ungeheuerem Course mußte damals der Werth eines<lb/>
Mannes stehen, dem gegenüber, wo er eingriff mit seinem Geiste die Lange¬<lb/>
weile verschwand wie durch Hexerei, der alles was sein Geist berührte, zum<lb/>
amüsantesten Spielzeug für die Menschheit gestaltete, Jahr auf Jahr, und so<lb/>
weiter Generationen hindurch! Die geringsten Nichtigkeiten wußte Voltaire</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0012] wunderbares Zusammentreffen der verschiedensten Umstände. Zunächst schrieb Voltaire für Paris d. h. für den Geschmack der Stadt, deren Bewohner da¬ mals als die bevorzugten Vertreter der gebildetsten Nation galten. Er wußte sich auf das vollständigste mit diesem Geschmack zu verschmelzen — ohne daß er ihn etwa zu erheben oder zu läutern gestrebt hätte — so vollstän¬ dig, daß Voltaire auch damals sicher war, die allgemeine Aufmerksamkeit der Pariser sich und seinen neuesten Schriften wochenlang zuzuwenden, als er jahrelang in theils erzwungener Abwesenheit in England, theils in freiwilliger bei Friedrich dem Großen in Berlin und Potsdam lebte. Indessen hätte wohl diese Vertrautheit mit dem Geschmacks-, Interessen- und Bildungskreis der Pariser nicht ausgereicht, ihm für soviele Jahrzehnte unbestritten die Palme zu verschaffen, wenn er nicht zugleich im höchsten Maße die Sprache der besten französischen Gesellschaft und Schriftsteller in seiner Gewalt gehabt hätte. „Zu der Zeit, wo Voltaire auftrat, war die Sprache zu einem In¬ strumente und solcher Feinheit geworden, daß das Erscheinen eines Mannes, der sich desselben nur mit voller Kraft bediente, eine Art Forderung an das schöpferische Genie der Nation war. Man konnte sagen: ein Mann wie Voltaire mußte schließlich kommen." Hundert Jahre hatten an dieser Ent¬ wickelung gearbeitet, seit Corneille zuerst aufgetreten war. Racine, Moliere hatten in ihrer Weise dazu geholfen, und dennoch konnte noch ein Kritiker wie Boileau daran zweifeln, ob es möglich sei, sich überhaupt correct fran¬ zösisch auszudrücken. Ganz Paris war etwa von demselben kritischen Geiste beseelt. Jeder suchte an seinem Theile sich im besten Französisch zu üben. Um 1700 etwa schrieb Allewelt in Paris: Hohe Herren und Kammerdiener, Damen und Cavaliere; in Prosa und in Versen: galante oder satirische Ge¬ dichte, Episteln, Memoiren, Komödien, Tragödien, Liebesbriefe. Alles wurde im Manuscript gelesen, kritisirt, gedruckt wenig. Wer damals in Paris auf¬ treten durfte „mit dem Anspruch, daß man Notiz von ihm nehme, hatte etwas von einem Auserwählten an sich." Voltaire erhob diesen Anspruch, denn er hatte wie keiner vor ihm die höchste Meisterschaft in der Handhabung und Uebung seiner Sprache sich angeeignet und hat sie bis an sein Ende behaup¬ tete. — Als dritter Factor seiner unbestrittenen einsamen Größe kam hinzu die Tendenz seiner Schriften. „Der allgemeinen europäischen Gesellschaft war damals nur darum zu thun, so gut als möglich sich Musik zu schaffen, nach der man tanzen könne. Die Langeweile zu bekämpfen war Jedermanns erste Sorge. In welch ungeheuerem Course mußte damals der Werth eines Mannes stehen, dem gegenüber, wo er eingriff mit seinem Geiste die Lange¬ weile verschwand wie durch Hexerei, der alles was sein Geist berührte, zum amüsantesten Spielzeug für die Menschheit gestaltete, Jahr auf Jahr, und so weiter Generationen hindurch! Die geringsten Nichtigkeiten wußte Voltaire

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_359154
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_359154/12
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_359154/12>, abgerufen am 27.07.2024.