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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, II. Band.

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Millionen, deren jeder einzelne als ein Atom nur seiner Seele angesehen
werden kann. Er war größer, stärker, glücklicher als sie Alle, und das Jahr¬
hundert, in dem er wirkte, trägt seinen Namen." Grimm untersucht nun die
Gründe dieser einzigen Erscheinung, zu dem Zwecke, uns die phänomenale
Bedeutung Voltaire's für Frankreich, für seine Zeit, zugleich in ihrer ganzen
Größe zu zeigen und zu erklären. Grimm führt in eingehender Entwickelung
als solche Gründe an zunächst die lange Lebensdauer Voltaire's, welche die
bedeutendste Epoche der französischen Entwickelung umschließt. "En kam auf
die Welt 1694. Seine Jugend bildet sich also unter dem Gefühl der un¬
bestrittenen Uebermacht Frankreichs, welche die Regierung Ludwig's XIV. be¬
gründet hatte. Sein Ausgang fällt in die Tage, wo die zur Thatsache
werdende Revolution noch wie der Schimmer eines herrlichen Tagesglanz
verheißenden Morgenrothes am Himmel aufstieg. Niemals hat literarische
Thätigkeit so hoch im Preise gestanden, als während des Jahrhunderts, in
welches Voltaire's Laufbahn fiel; niemals hat Jemand reichere Fähigkeiten
für eine solche Laufbahn mitgebracht und ausgebeutet." Größere buchhänd¬
lerische Erfolge hat unser Jahrhundert mit gewissen Romanen aufzuweisen.
Niemals aber hat irgendwer alle Kreise seines Volkes und der gebildeten
Zeitgenossen überhaupt, zu Lesern seiner Werke gehabt, als Voltaire: Friedrich
der Große und Diderot und selbst Lessing stehen unter seinem Einfluß. In
Religion, Wissenschaft. Politik, in Alles sickert allmählich sein Geist. Wider¬
stand leistet ihm Niemand; nur ein Mann hält sich frei von ihm: Jean
Jacques Rousseau; ihn allein sucht Voltaire nie zu gewinnen, nur ihn zu
ignoriren und sich vom Halse zu halten. Alle Andern aber, deren bloße
Existenz ihn reizt, wenn sie Miene machen, ihn selbst nicht als mächtigsten
Literaten im Lande gelten zu lassen, greift er an mit allen Waffen seines
reichen Arsenals, mit dem lauten Knall seiner großen Geschütze oder den
kleinen infamen Pfeilen, die wie Gift wirken, je nach Umständen. Seine Ge¬
schichte ist die Geschichte dieser Kämpfe. In der Tiefe seines Wesens hat er
kaum eine Entwickelung gehabt, kaum etwas neues gelernt; alles lag bereits
in ihm. "Er hat die Spinnenfaden seiner Kenntnisse und persönlichen Ver¬
bindungen an immer fernere Punkte angeklebt, sie zu immer weiteren Maschen
gesponnen, in denen Freund und Feind, Mücken und Elephanten hängen
bleiben: aber das große, Leben aufsaugende Thier mit dem ungeheueren
Verstände saß in der Mitte von Anfang an, mit denselben Augen in der¬
selben Gestalt auf demselben Flecke und lauerte." -- Diese ganz einzige
Stellung Voltaire's, welche so befestigt und unangreifbar war, daß selbst
Friedrich der Große von einem der geringeren Producte der Voltaire'schen
Muse, der Henriade sagte. jeder Mann von Geschmack werde sie der Ilias
vorziehen -- diese wunderbaren Erfolge erklären sich nur durch ein ebenso


Millionen, deren jeder einzelne als ein Atom nur seiner Seele angesehen
werden kann. Er war größer, stärker, glücklicher als sie Alle, und das Jahr¬
hundert, in dem er wirkte, trägt seinen Namen." Grimm untersucht nun die
Gründe dieser einzigen Erscheinung, zu dem Zwecke, uns die phänomenale
Bedeutung Voltaire's für Frankreich, für seine Zeit, zugleich in ihrer ganzen
Größe zu zeigen und zu erklären. Grimm führt in eingehender Entwickelung
als solche Gründe an zunächst die lange Lebensdauer Voltaire's, welche die
bedeutendste Epoche der französischen Entwickelung umschließt. „En kam auf
die Welt 1694. Seine Jugend bildet sich also unter dem Gefühl der un¬
bestrittenen Uebermacht Frankreichs, welche die Regierung Ludwig's XIV. be¬
gründet hatte. Sein Ausgang fällt in die Tage, wo die zur Thatsache
werdende Revolution noch wie der Schimmer eines herrlichen Tagesglanz
verheißenden Morgenrothes am Himmel aufstieg. Niemals hat literarische
Thätigkeit so hoch im Preise gestanden, als während des Jahrhunderts, in
welches Voltaire's Laufbahn fiel; niemals hat Jemand reichere Fähigkeiten
für eine solche Laufbahn mitgebracht und ausgebeutet." Größere buchhänd¬
lerische Erfolge hat unser Jahrhundert mit gewissen Romanen aufzuweisen.
Niemals aber hat irgendwer alle Kreise seines Volkes und der gebildeten
Zeitgenossen überhaupt, zu Lesern seiner Werke gehabt, als Voltaire: Friedrich
der Große und Diderot und selbst Lessing stehen unter seinem Einfluß. In
Religion, Wissenschaft. Politik, in Alles sickert allmählich sein Geist. Wider¬
stand leistet ihm Niemand; nur ein Mann hält sich frei von ihm: Jean
Jacques Rousseau; ihn allein sucht Voltaire nie zu gewinnen, nur ihn zu
ignoriren und sich vom Halse zu halten. Alle Andern aber, deren bloße
Existenz ihn reizt, wenn sie Miene machen, ihn selbst nicht als mächtigsten
Literaten im Lande gelten zu lassen, greift er an mit allen Waffen seines
reichen Arsenals, mit dem lauten Knall seiner großen Geschütze oder den
kleinen infamen Pfeilen, die wie Gift wirken, je nach Umständen. Seine Ge¬
schichte ist die Geschichte dieser Kämpfe. In der Tiefe seines Wesens hat er
kaum eine Entwickelung gehabt, kaum etwas neues gelernt; alles lag bereits
in ihm. „Er hat die Spinnenfaden seiner Kenntnisse und persönlichen Ver¬
bindungen an immer fernere Punkte angeklebt, sie zu immer weiteren Maschen
gesponnen, in denen Freund und Feind, Mücken und Elephanten hängen
bleiben: aber das große, Leben aufsaugende Thier mit dem ungeheueren
Verstände saß in der Mitte von Anfang an, mit denselben Augen in der¬
selben Gestalt auf demselben Flecke und lauerte." — Diese ganz einzige
Stellung Voltaire's, welche so befestigt und unangreifbar war, daß selbst
Friedrich der Große von einem der geringeren Producte der Voltaire'schen
Muse, der Henriade sagte. jeder Mann von Geschmack werde sie der Ilias
vorziehen — diese wunderbaren Erfolge erklären sich nur durch ein ebenso


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_359154/11>, abgerufen am 27.07.2024.