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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, I. Band.

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Der Gedanke an den Weltuntergang lag der Menschheit nahe zu einer Zeit,
wo alle Säulen, auf denen die Gesellschaft sich gestützt hatte, morsch geworden,
wo mit dem Glauben an die Mächte, welche einst die Welt beherrscht und
dem Einzelnen Schutz und Trost gewährt und ihm das Ziel und den Zweck
des Daseins bestimmt hatten, auch die Hoffnung auf Rettung und Genesung
verschwunden war.

In dieser Periode erschienen die drei genannten italienischen Dichter als
Propheten und Pfadfinder einer neuen Welt. Dante, der älteste von ihnen,
faßt alle Herrlichkeit und alle Schranken, alle Ideen und Bestrebungen des
blühenden Mittelalters in seinem wunderbaren Gedichte zusammen; aber er
hat vielleicht, ohne sich selbst dessen klar bewußt zu sein, seinen Standpunkt
bereits außer ihnen genommen, er steht ihnen objectiv gegenüber, er zieht sie
vor seinen dichterischen und prophetischen Richterstuhl. Wohl hofft er, der
begeisterte Ghibelline, der verbannte Sohn des guelfischen Florenz auf eine
Wiederbelebung des Kaiserthums, dessen höchstes Richteramt allein ihm die
Weltordnung zu verbürgen scheint. Nichtsdestoweniger flüchtet auch er schon
sich aus seiner Zeit in die Vergangenheit, tritt er an die Quelle des Alter¬
thums, jener Zeit, wo Italien einig um seinen Mittelpunkt, die ewige Roma
sich drehend, die Welt beherrschte; der Kaiser ist noch der Nachfolger der Cä-
saren; Dante hat die Ideen des Mittelalters, mit gewaltiger Energie in
ihrer tiefsten Bedeutung verfaßt. Aber da er ahnt, daß seine Zeit im Ver¬
falle begriffen ist, wendet er den Blick zurück in die ferne Vergangenheit, um
aus ihr, die an Größe und Herrlichkeit, an Kunst und Wissenschaft, in fest
gefügter Ordnung die Gegenwart so weit überragte, Hoffnung für die Zu¬
kunft zu schöpfen.

Was in Dante eine noch unklare Ahnung war, tritt in Petrarca scharf
und bestimmt hervor. An Schwung des Gedankens, Tiefe der Ideen, Größe
und Erhabenheit der Anschauungen hinter Dante zurückstehend, übertrifft er
ihn an Vielseitigkeit der Bestrebungen, Erkenntniß der Zeitströmungen und
dem klaren Bewußtsein der anzustrebenden Ziele. Petrarca ist nicht nur
Dichter und italienischer Patriot, wie Dante, er ist zugleich mit vollem Be¬
wußtsein Humanist, Alterthumsforscher und Philologe. Was bei Dante ver¬
schlossene Knospe war, entfaltete sich in ihm zur vollen Blüthe, dergestalt, daß
seine bescheidene wissenschaftliche Thätigkeit an Bedeutung seinem dichterischen
Schaffen, das seinen Ruhm rasch durch alle Länder trug und seinen Namen
mit einem unvergänglichen Zauberglanz verklärt hat, wenig nachsteht.

Das treffliche Buch von Ludwig Geiger, welches ausdrücklich der Er¬
innerung an die fünfte Säcularfeier Petrarca's am 18. Juli 1874 gewidmet
ist. hebt die vielseitige Bedeutung des großen Dichters und Humanisten klar
und scharf hervor. Der Herr Verfasser spricht sich in der Vorrede sehr be-


Der Gedanke an den Weltuntergang lag der Menschheit nahe zu einer Zeit,
wo alle Säulen, auf denen die Gesellschaft sich gestützt hatte, morsch geworden,
wo mit dem Glauben an die Mächte, welche einst die Welt beherrscht und
dem Einzelnen Schutz und Trost gewährt und ihm das Ziel und den Zweck
des Daseins bestimmt hatten, auch die Hoffnung auf Rettung und Genesung
verschwunden war.

In dieser Periode erschienen die drei genannten italienischen Dichter als
Propheten und Pfadfinder einer neuen Welt. Dante, der älteste von ihnen,
faßt alle Herrlichkeit und alle Schranken, alle Ideen und Bestrebungen des
blühenden Mittelalters in seinem wunderbaren Gedichte zusammen; aber er
hat vielleicht, ohne sich selbst dessen klar bewußt zu sein, seinen Standpunkt
bereits außer ihnen genommen, er steht ihnen objectiv gegenüber, er zieht sie
vor seinen dichterischen und prophetischen Richterstuhl. Wohl hofft er, der
begeisterte Ghibelline, der verbannte Sohn des guelfischen Florenz auf eine
Wiederbelebung des Kaiserthums, dessen höchstes Richteramt allein ihm die
Weltordnung zu verbürgen scheint. Nichtsdestoweniger flüchtet auch er schon
sich aus seiner Zeit in die Vergangenheit, tritt er an die Quelle des Alter¬
thums, jener Zeit, wo Italien einig um seinen Mittelpunkt, die ewige Roma
sich drehend, die Welt beherrschte; der Kaiser ist noch der Nachfolger der Cä-
saren; Dante hat die Ideen des Mittelalters, mit gewaltiger Energie in
ihrer tiefsten Bedeutung verfaßt. Aber da er ahnt, daß seine Zeit im Ver¬
falle begriffen ist, wendet er den Blick zurück in die ferne Vergangenheit, um
aus ihr, die an Größe und Herrlichkeit, an Kunst und Wissenschaft, in fest
gefügter Ordnung die Gegenwart so weit überragte, Hoffnung für die Zu¬
kunft zu schöpfen.

Was in Dante eine noch unklare Ahnung war, tritt in Petrarca scharf
und bestimmt hervor. An Schwung des Gedankens, Tiefe der Ideen, Größe
und Erhabenheit der Anschauungen hinter Dante zurückstehend, übertrifft er
ihn an Vielseitigkeit der Bestrebungen, Erkenntniß der Zeitströmungen und
dem klaren Bewußtsein der anzustrebenden Ziele. Petrarca ist nicht nur
Dichter und italienischer Patriot, wie Dante, er ist zugleich mit vollem Be¬
wußtsein Humanist, Alterthumsforscher und Philologe. Was bei Dante ver¬
schlossene Knospe war, entfaltete sich in ihm zur vollen Blüthe, dergestalt, daß
seine bescheidene wissenschaftliche Thätigkeit an Bedeutung seinem dichterischen
Schaffen, das seinen Ruhm rasch durch alle Länder trug und seinen Namen
mit einem unvergänglichen Zauberglanz verklärt hat, wenig nachsteht.

Das treffliche Buch von Ludwig Geiger, welches ausdrücklich der Er¬
innerung an die fünfte Säcularfeier Petrarca's am 18. Juli 1874 gewidmet
ist. hebt die vielseitige Bedeutung des großen Dichters und Humanisten klar
und scharf hervor. Der Herr Verfasser spricht sich in der Vorrede sehr be-


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[0091] Der Gedanke an den Weltuntergang lag der Menschheit nahe zu einer Zeit, wo alle Säulen, auf denen die Gesellschaft sich gestützt hatte, morsch geworden, wo mit dem Glauben an die Mächte, welche einst die Welt beherrscht und dem Einzelnen Schutz und Trost gewährt und ihm das Ziel und den Zweck des Daseins bestimmt hatten, auch die Hoffnung auf Rettung und Genesung verschwunden war. In dieser Periode erschienen die drei genannten italienischen Dichter als Propheten und Pfadfinder einer neuen Welt. Dante, der älteste von ihnen, faßt alle Herrlichkeit und alle Schranken, alle Ideen und Bestrebungen des blühenden Mittelalters in seinem wunderbaren Gedichte zusammen; aber er hat vielleicht, ohne sich selbst dessen klar bewußt zu sein, seinen Standpunkt bereits außer ihnen genommen, er steht ihnen objectiv gegenüber, er zieht sie vor seinen dichterischen und prophetischen Richterstuhl. Wohl hofft er, der begeisterte Ghibelline, der verbannte Sohn des guelfischen Florenz auf eine Wiederbelebung des Kaiserthums, dessen höchstes Richteramt allein ihm die Weltordnung zu verbürgen scheint. Nichtsdestoweniger flüchtet auch er schon sich aus seiner Zeit in die Vergangenheit, tritt er an die Quelle des Alter¬ thums, jener Zeit, wo Italien einig um seinen Mittelpunkt, die ewige Roma sich drehend, die Welt beherrschte; der Kaiser ist noch der Nachfolger der Cä- saren; Dante hat die Ideen des Mittelalters, mit gewaltiger Energie in ihrer tiefsten Bedeutung verfaßt. Aber da er ahnt, daß seine Zeit im Ver¬ falle begriffen ist, wendet er den Blick zurück in die ferne Vergangenheit, um aus ihr, die an Größe und Herrlichkeit, an Kunst und Wissenschaft, in fest gefügter Ordnung die Gegenwart so weit überragte, Hoffnung für die Zu¬ kunft zu schöpfen. Was in Dante eine noch unklare Ahnung war, tritt in Petrarca scharf und bestimmt hervor. An Schwung des Gedankens, Tiefe der Ideen, Größe und Erhabenheit der Anschauungen hinter Dante zurückstehend, übertrifft er ihn an Vielseitigkeit der Bestrebungen, Erkenntniß der Zeitströmungen und dem klaren Bewußtsein der anzustrebenden Ziele. Petrarca ist nicht nur Dichter und italienischer Patriot, wie Dante, er ist zugleich mit vollem Be¬ wußtsein Humanist, Alterthumsforscher und Philologe. Was bei Dante ver¬ schlossene Knospe war, entfaltete sich in ihm zur vollen Blüthe, dergestalt, daß seine bescheidene wissenschaftliche Thätigkeit an Bedeutung seinem dichterischen Schaffen, das seinen Ruhm rasch durch alle Länder trug und seinen Namen mit einem unvergänglichen Zauberglanz verklärt hat, wenig nachsteht. Das treffliche Buch von Ludwig Geiger, welches ausdrücklich der Er¬ innerung an die fünfte Säcularfeier Petrarca's am 18. Juli 1874 gewidmet ist. hebt die vielseitige Bedeutung des großen Dichters und Humanisten klar und scharf hervor. Der Herr Verfasser spricht sich in der Vorrede sehr be-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_359152/91>, abgerufen am 22.07.2024.