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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, I. Band.

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Die Zeit, in welcher die beiden großen Mächte des Mittelalters, nicht
zufrieden, sich in die Weltherrschaft zu theilen, in dem Kampf um den Allein¬
besitz derselben ihre Kräfte erschöpften, war von wenigen aber unwiderstehlich
wirkenden, die Gemüther lenkenden, die Einbildungskraft hinreißenden Ideen
bewegt gewesen. Der Glanz der Universalmonarchie blendete die Augen,
aber gewaltiger noch bewegte die Gemüther die stetig wachsende Macht der
Kirche. In der so wirksamen Hoheit und Pracht der äußeren Erscheinung
that sie es der weltlichen Macht noch zuvor, der Papst hatte den Vortritt vor
Kaisern und Königen. Sie war außerdem fast im Alleinbesitz der Bildung
des Zeitalters; kein Fürst konnte der geistlichen Kanzler und Räthe ent¬
behren, die Diener der Kirche beherrschten die Politik der Höfe, Diener der
Kirche lenkten im Beichtstuhl die Gewissen der Herrscher, Diener der Kirche
spendeten dem Volke Trost und Schutz wider die Gewaltthaten weltlicher
Unterdrücker. Die Religion war der einzige Mittel- und Stützpunkt des
Daseins. Ein Gedanke trieb die Christenheit in den Orient zur Befreiung
des heiligen Grabes; und demselben Gedanken entsproßte die Blüthe des
Ritterthums. Auch der Frauencultus, die ritterliche Poesie schöpften ur¬
sprünglich ihre Antriebe aus denselben Quellen.

Aber mit dem Falle der Hohenstaufen, mit dem vollständigen Triumphe
des Papstthums war die schöpferische Thätigkeit der Zeit zum großen Theil
versiegt. Was an Lebenskraft noch übrig war, suchte nach neuen Wegen,
nach neuen Antrieben. An die Stelle des universalen entwickelte sich das von
den Päpsten im Kampfe gegen das Kaiserthum nach dem Grundsatze cliviä"
et imxers. selbst gepflegte corporative Element. Der gewaltige Ausschwung
des Städtewesens in Deutschland (in Italien hatte dasselbe sich schon längst
mächtig entwickelt) war eine glänzende Nachblüthe des Mittelalters; aber die
Entwickelung der Städte vermochte ebensowenig wie die Ausbildung des fürst¬
lichen Territorialsystems dem Verfalle Schranken zu setzen; im Gegentheil, sie
wirkte zersetzend und zerstörend. Die Concentration aller Lebenskraft in
kleinen Gemeinschaften, wie Treffliches sie auch geleistet hat, war im Grunde
doch ein ungesunder Zustand; ein wirklich schöpferisches Princip konnte sich
zunächst aus ihr nicht entwickeln.

Es war eine trostlose Zeit geistiger Oede und sittlicher Verderbniß. Die
Natur selbst schien dem menschlichen Geschlechte zu zürnen: neue Krankheiten,
welche der Charlatanerie der Aerzte spotteten, entkräfteter und vergifteten
ganze Generationen, furchtbare Epidemien entvölkerten Europa und ent¬
fesselten einerseits die häßlichsten Leidenschaften, andererseits entfachten sie
einen religiösen Fanatismus, der sich vielfach zu einem epidemischen Wahnsinn
steigerte, und der so furchtbare Erscheinungen zur Folge hatte, daß die Kirche
selbst mit den strengsten Strafen gegen ihn einzuschreiten sich genöthigt sah.


Die Zeit, in welcher die beiden großen Mächte des Mittelalters, nicht
zufrieden, sich in die Weltherrschaft zu theilen, in dem Kampf um den Allein¬
besitz derselben ihre Kräfte erschöpften, war von wenigen aber unwiderstehlich
wirkenden, die Gemüther lenkenden, die Einbildungskraft hinreißenden Ideen
bewegt gewesen. Der Glanz der Universalmonarchie blendete die Augen,
aber gewaltiger noch bewegte die Gemüther die stetig wachsende Macht der
Kirche. In der so wirksamen Hoheit und Pracht der äußeren Erscheinung
that sie es der weltlichen Macht noch zuvor, der Papst hatte den Vortritt vor
Kaisern und Königen. Sie war außerdem fast im Alleinbesitz der Bildung
des Zeitalters; kein Fürst konnte der geistlichen Kanzler und Räthe ent¬
behren, die Diener der Kirche beherrschten die Politik der Höfe, Diener der
Kirche lenkten im Beichtstuhl die Gewissen der Herrscher, Diener der Kirche
spendeten dem Volke Trost und Schutz wider die Gewaltthaten weltlicher
Unterdrücker. Die Religion war der einzige Mittel- und Stützpunkt des
Daseins. Ein Gedanke trieb die Christenheit in den Orient zur Befreiung
des heiligen Grabes; und demselben Gedanken entsproßte die Blüthe des
Ritterthums. Auch der Frauencultus, die ritterliche Poesie schöpften ur¬
sprünglich ihre Antriebe aus denselben Quellen.

Aber mit dem Falle der Hohenstaufen, mit dem vollständigen Triumphe
des Papstthums war die schöpferische Thätigkeit der Zeit zum großen Theil
versiegt. Was an Lebenskraft noch übrig war, suchte nach neuen Wegen,
nach neuen Antrieben. An die Stelle des universalen entwickelte sich das von
den Päpsten im Kampfe gegen das Kaiserthum nach dem Grundsatze cliviä«
et imxers. selbst gepflegte corporative Element. Der gewaltige Ausschwung
des Städtewesens in Deutschland (in Italien hatte dasselbe sich schon längst
mächtig entwickelt) war eine glänzende Nachblüthe des Mittelalters; aber die
Entwickelung der Städte vermochte ebensowenig wie die Ausbildung des fürst¬
lichen Territorialsystems dem Verfalle Schranken zu setzen; im Gegentheil, sie
wirkte zersetzend und zerstörend. Die Concentration aller Lebenskraft in
kleinen Gemeinschaften, wie Treffliches sie auch geleistet hat, war im Grunde
doch ein ungesunder Zustand; ein wirklich schöpferisches Princip konnte sich
zunächst aus ihr nicht entwickeln.

Es war eine trostlose Zeit geistiger Oede und sittlicher Verderbniß. Die
Natur selbst schien dem menschlichen Geschlechte zu zürnen: neue Krankheiten,
welche der Charlatanerie der Aerzte spotteten, entkräfteter und vergifteten
ganze Generationen, furchtbare Epidemien entvölkerten Europa und ent¬
fesselten einerseits die häßlichsten Leidenschaften, andererseits entfachten sie
einen religiösen Fanatismus, der sich vielfach zu einem epidemischen Wahnsinn
steigerte, und der so furchtbare Erscheinungen zur Folge hatte, daß die Kirche
selbst mit den strengsten Strafen gegen ihn einzuschreiten sich genöthigt sah.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_359152/90>, abgerufen am 22.07.2024.