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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, I. Band.

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So stand die Stadt vor meiner Seele in jener einsamen Nacht; wie eine
Ampel, die herabhängt in das matt erleuchtete Schlafgemach, hing der sinkende
Mond am Himmel, die schaukelnde Wiege ist das Meer und in den Lüften
bebte es leise: das waren die Seufzer der schönen Witwe.

- Aber der Nacht folgt der Morgen; in früher Stunde, da Alles wieder
voll Sonne und Leben war. traten wir unter das Thor der Markuskirche,
die einzig dasteht unter allen Kirchen der Welt. Obwohl das Alter und die
rauhe Lust auch ihren Schleier um diese Mauern legten. so brechen doch die
leuchtenden Farben und die gewaltigen Formen durch alles Grau der Ver¬
gangenheit hindurch. Die ehernen Rosse, die über dem Portale stehen, bäumen
sich auf; Kuppeln und Bogen wölben sich mit spannender Kraft; jedes Glied
in dem ungeheuern Bau ist lebendig, aber im Ganzen liegt unerschütterlich
jene tiefe prächtige Ruhe, die dem Gotteshause allein zu eigen ist.

Es ist schwer, sich von dem herrlichen Gesammteindruck zu lösen und an
die Fülle reicher Einzelheiten heranzutreten, die sich hier vor uns erschließen,
fast jede von tiefer geschichtlicher Bedeutung, fast jede von tiefer vollendeter
Schönheit. Es sind jetzt genau 800 Jahre, daß der Bau von San Marco
vollendet ward. Seine kirchliche Weihe ward ihm durch die Reliquien des
großen Evangelisten gegeben, seine geschichtliche Weihe liegt darin, dah er
mit den Ereignissen der Stadt und ihrer Herrscher aufs innigste verknüpft ist.
Er war der Schauplatz ihrer Triumphe und die Zufluchtsstätte ihrer Sorgen.
Alles was es gethan und gelitten, that Venedig unter dem schützenden Flügel
San Marco's.

Wer der Hauptfacade entgegentritt, wird überwältigt von den Massen,
die der Reichthum der Stadt und der Reichthum ihrer Schöpferkraft hier auf-
gethürmt. Fünf mächtige Bogen, durch fürstliche Säulen getragen, bilden
den Eingang zur vordern Halle und die ehernen Thüren, die von hier in
das Innere geleiten, die Mosaiken auf goldenem Grunde, der farbige Mar¬
mor, -- das Alles ergreift uns so geheimnißvoll, daß wir stille stehen und
staunend emporschauen.

Jedes für sich ist ein Wunder.

Wie bekannt stammt das berühmte Mergespann, das über dem Haupt-
Portale steht, aus der römischen Antike-Zeit und war lange in Byzanz. der
Hauptstadt des Östreichs geborgen. Als Greis von 9S Jahren führte der
Doge Dandolo (1203) die Venezianer zum Sturme auf Konstantinopel; er
war fast erblindet, aber das Feuer des Lebens glühte ihm noch in allen
Adern, sein Name bezeichnet den Höhepunkt der kriegerischen Macht Venedigs;
sein Denkmal sind die herrlichsten Bauten der Stadt. Aus allen Theilen
der Welt trägt die Markuskirche Trophäen, jeder Stein ist historisch. Jene
beiden gewaltigen Pfeiler an der Thür des Baptisteriums stammen aus der


So stand die Stadt vor meiner Seele in jener einsamen Nacht; wie eine
Ampel, die herabhängt in das matt erleuchtete Schlafgemach, hing der sinkende
Mond am Himmel, die schaukelnde Wiege ist das Meer und in den Lüften
bebte es leise: das waren die Seufzer der schönen Witwe.

- Aber der Nacht folgt der Morgen; in früher Stunde, da Alles wieder
voll Sonne und Leben war. traten wir unter das Thor der Markuskirche,
die einzig dasteht unter allen Kirchen der Welt. Obwohl das Alter und die
rauhe Lust auch ihren Schleier um diese Mauern legten. so brechen doch die
leuchtenden Farben und die gewaltigen Formen durch alles Grau der Ver¬
gangenheit hindurch. Die ehernen Rosse, die über dem Portale stehen, bäumen
sich auf; Kuppeln und Bogen wölben sich mit spannender Kraft; jedes Glied
in dem ungeheuern Bau ist lebendig, aber im Ganzen liegt unerschütterlich
jene tiefe prächtige Ruhe, die dem Gotteshause allein zu eigen ist.

Es ist schwer, sich von dem herrlichen Gesammteindruck zu lösen und an
die Fülle reicher Einzelheiten heranzutreten, die sich hier vor uns erschließen,
fast jede von tiefer geschichtlicher Bedeutung, fast jede von tiefer vollendeter
Schönheit. Es sind jetzt genau 800 Jahre, daß der Bau von San Marco
vollendet ward. Seine kirchliche Weihe ward ihm durch die Reliquien des
großen Evangelisten gegeben, seine geschichtliche Weihe liegt darin, dah er
mit den Ereignissen der Stadt und ihrer Herrscher aufs innigste verknüpft ist.
Er war der Schauplatz ihrer Triumphe und die Zufluchtsstätte ihrer Sorgen.
Alles was es gethan und gelitten, that Venedig unter dem schützenden Flügel
San Marco's.

Wer der Hauptfacade entgegentritt, wird überwältigt von den Massen,
die der Reichthum der Stadt und der Reichthum ihrer Schöpferkraft hier auf-
gethürmt. Fünf mächtige Bogen, durch fürstliche Säulen getragen, bilden
den Eingang zur vordern Halle und die ehernen Thüren, die von hier in
das Innere geleiten, die Mosaiken auf goldenem Grunde, der farbige Mar¬
mor, — das Alles ergreift uns so geheimnißvoll, daß wir stille stehen und
staunend emporschauen.

Jedes für sich ist ein Wunder.

Wie bekannt stammt das berühmte Mergespann, das über dem Haupt-
Portale steht, aus der römischen Antike-Zeit und war lange in Byzanz. der
Hauptstadt des Östreichs geborgen. Als Greis von 9S Jahren führte der
Doge Dandolo (1203) die Venezianer zum Sturme auf Konstantinopel; er
war fast erblindet, aber das Feuer des Lebens glühte ihm noch in allen
Adern, sein Name bezeichnet den Höhepunkt der kriegerischen Macht Venedigs;
sein Denkmal sind die herrlichsten Bauten der Stadt. Aus allen Theilen
der Welt trägt die Markuskirche Trophäen, jeder Stein ist historisch. Jene
beiden gewaltigen Pfeiler an der Thür des Baptisteriums stammen aus der


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[0053] So stand die Stadt vor meiner Seele in jener einsamen Nacht; wie eine Ampel, die herabhängt in das matt erleuchtete Schlafgemach, hing der sinkende Mond am Himmel, die schaukelnde Wiege ist das Meer und in den Lüften bebte es leise: das waren die Seufzer der schönen Witwe. - Aber der Nacht folgt der Morgen; in früher Stunde, da Alles wieder voll Sonne und Leben war. traten wir unter das Thor der Markuskirche, die einzig dasteht unter allen Kirchen der Welt. Obwohl das Alter und die rauhe Lust auch ihren Schleier um diese Mauern legten. so brechen doch die leuchtenden Farben und die gewaltigen Formen durch alles Grau der Ver¬ gangenheit hindurch. Die ehernen Rosse, die über dem Portale stehen, bäumen sich auf; Kuppeln und Bogen wölben sich mit spannender Kraft; jedes Glied in dem ungeheuern Bau ist lebendig, aber im Ganzen liegt unerschütterlich jene tiefe prächtige Ruhe, die dem Gotteshause allein zu eigen ist. Es ist schwer, sich von dem herrlichen Gesammteindruck zu lösen und an die Fülle reicher Einzelheiten heranzutreten, die sich hier vor uns erschließen, fast jede von tiefer geschichtlicher Bedeutung, fast jede von tiefer vollendeter Schönheit. Es sind jetzt genau 800 Jahre, daß der Bau von San Marco vollendet ward. Seine kirchliche Weihe ward ihm durch die Reliquien des großen Evangelisten gegeben, seine geschichtliche Weihe liegt darin, dah er mit den Ereignissen der Stadt und ihrer Herrscher aufs innigste verknüpft ist. Er war der Schauplatz ihrer Triumphe und die Zufluchtsstätte ihrer Sorgen. Alles was es gethan und gelitten, that Venedig unter dem schützenden Flügel San Marco's. Wer der Hauptfacade entgegentritt, wird überwältigt von den Massen, die der Reichthum der Stadt und der Reichthum ihrer Schöpferkraft hier auf- gethürmt. Fünf mächtige Bogen, durch fürstliche Säulen getragen, bilden den Eingang zur vordern Halle und die ehernen Thüren, die von hier in das Innere geleiten, die Mosaiken auf goldenem Grunde, der farbige Mar¬ mor, — das Alles ergreift uns so geheimnißvoll, daß wir stille stehen und staunend emporschauen. Jedes für sich ist ein Wunder. Wie bekannt stammt das berühmte Mergespann, das über dem Haupt- Portale steht, aus der römischen Antike-Zeit und war lange in Byzanz. der Hauptstadt des Östreichs geborgen. Als Greis von 9S Jahren führte der Doge Dandolo (1203) die Venezianer zum Sturme auf Konstantinopel; er war fast erblindet, aber das Feuer des Lebens glühte ihm noch in allen Adern, sein Name bezeichnet den Höhepunkt der kriegerischen Macht Venedigs; sein Denkmal sind die herrlichsten Bauten der Stadt. Aus allen Theilen der Welt trägt die Markuskirche Trophäen, jeder Stein ist historisch. Jene beiden gewaltigen Pfeiler an der Thür des Baptisteriums stammen aus der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_359152/53>, abgerufen am 22.07.2024.