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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, I. Band.

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Maßstab anzulegen. Wohl verstand man, geistreich über die Vergangenheit
zu reflectiren, aber des umfassenden Blickes, der die in der Vergangenheit
wirkenden Kräfte zu erkennen und zu beurtheilen vemag, entbehrte der Fran¬
zose vollständig. Man stellte sich ein Bild zusammen, das völlig nach den
eignen Anschauungen geformt war: entsprach eine Zeit, wie man sie willkür¬
lich sich construirt hatte, den herrschenden Anschauungen, so war sie gut,
andern Falls war sie schlecht und barbarisch. Wie kritiklos man dabei ver¬
fuhr, wie wenig fähig man war, den Charakter einer Periode und der in
ihr wirkenden Männer zu begreifen, zeigte sich u. a. in der Begeisterung der
Revolutionsmänner für die römischen Republikaner. Den Girondisten er¬
schienen Brutus und Cato etwa als die tugendstrengen, feingebildeten Ver¬
treter der phantastischen demokratisch gefärbten Bourgeoisrepublik, für die die
gebildeten Pariser Kreise schwärmten; in den Augen der Sansculotten waren
sie Sansculotten (denn entbehren konnte sie auch die Rhetorik des Sanscu-
lottivmus nicht). Daß in Wahrheit grade die römischen Republikaner des
cäsarischen Zeitalters die starrsten Aristokraten und die erbittertsten Gegner
der Demokratie -- und zwar nicht bloß aus Haß gegen die im Hintergrunde
lauernde Tyrannis -- waren, davon hatte man keine Ahnung. Tritt doch
auch in dem französischen Drama ganz dieselbe Unfähigkeit hervor, den Geist
einer fernen Zeit oder eines fremden Landes zu erfassen! Um so bedeutungs¬
voller war es, daß die neue Geschichtsschreibung, die in den zwanziger und
dreißiger Jahren ihren Höhepunkt erreichte, die strenge Schule eines ernsten
Quellenstudiums durchmachte, daß sie sich nicht begnügte, das äußere Kostüm
der geschilderten Zeiten wiederzugeben (worin ein Theil der romantischen Poeten
das Aeußerste leistete), sondern daß sie zugleich auch des geistigen Gehaltes
der von ihr geschilderten Zeiten, der herrschenden Gesetze und Sitten, der die
Handlungen der Staatsmänner bedingenden Grundgedanken sich zu bemäch¬
tigen bemüht war. Es galt, die wirklichen Ausgangspunkte und Grundlagen
der nationalen Entwickelung wieder zu gewinnen, deren Kenntniß unter der
Einwirkung des centralisirenden und nivellirenden Königthums erloschen war.

Das Streben dieser historischen Schule, der auch Michelet angehörte,
ist sehr hoch anzuschlagen. Wenn ein Ablenken von der verderblichen Bahn,
welche die französische Geschichte seit Jahrhunderten eingeschlagen hatte, über¬
haupt möglich war, so konnte es nur durch Vermittelung historischer Stu¬
dien, durch Erweckung des geschichtlichen Sinnes erzielt werden. Alexis
von Tocqueville, der mit scharfem Blick sowohl den Sitz des Uebels, als auch
das einzig mögliche Heilmittel, den Bruch mit dem unseligen, revolutionären
Centralisationsprincip, erkannte, stand auf den Schultern der historischen
Schule. Aber daß er tauben Ohren predigte, ist auch der handgreiflichste
Beweis für die Fruchtlosigkeit aller Bemühungen, die Franzosen in die Ge-


Maßstab anzulegen. Wohl verstand man, geistreich über die Vergangenheit
zu reflectiren, aber des umfassenden Blickes, der die in der Vergangenheit
wirkenden Kräfte zu erkennen und zu beurtheilen vemag, entbehrte der Fran¬
zose vollständig. Man stellte sich ein Bild zusammen, das völlig nach den
eignen Anschauungen geformt war: entsprach eine Zeit, wie man sie willkür¬
lich sich construirt hatte, den herrschenden Anschauungen, so war sie gut,
andern Falls war sie schlecht und barbarisch. Wie kritiklos man dabei ver¬
fuhr, wie wenig fähig man war, den Charakter einer Periode und der in
ihr wirkenden Männer zu begreifen, zeigte sich u. a. in der Begeisterung der
Revolutionsmänner für die römischen Republikaner. Den Girondisten er¬
schienen Brutus und Cato etwa als die tugendstrengen, feingebildeten Ver¬
treter der phantastischen demokratisch gefärbten Bourgeoisrepublik, für die die
gebildeten Pariser Kreise schwärmten; in den Augen der Sansculotten waren
sie Sansculotten (denn entbehren konnte sie auch die Rhetorik des Sanscu-
lottivmus nicht). Daß in Wahrheit grade die römischen Republikaner des
cäsarischen Zeitalters die starrsten Aristokraten und die erbittertsten Gegner
der Demokratie — und zwar nicht bloß aus Haß gegen die im Hintergrunde
lauernde Tyrannis — waren, davon hatte man keine Ahnung. Tritt doch
auch in dem französischen Drama ganz dieselbe Unfähigkeit hervor, den Geist
einer fernen Zeit oder eines fremden Landes zu erfassen! Um so bedeutungs¬
voller war es, daß die neue Geschichtsschreibung, die in den zwanziger und
dreißiger Jahren ihren Höhepunkt erreichte, die strenge Schule eines ernsten
Quellenstudiums durchmachte, daß sie sich nicht begnügte, das äußere Kostüm
der geschilderten Zeiten wiederzugeben (worin ein Theil der romantischen Poeten
das Aeußerste leistete), sondern daß sie zugleich auch des geistigen Gehaltes
der von ihr geschilderten Zeiten, der herrschenden Gesetze und Sitten, der die
Handlungen der Staatsmänner bedingenden Grundgedanken sich zu bemäch¬
tigen bemüht war. Es galt, die wirklichen Ausgangspunkte und Grundlagen
der nationalen Entwickelung wieder zu gewinnen, deren Kenntniß unter der
Einwirkung des centralisirenden und nivellirenden Königthums erloschen war.

Das Streben dieser historischen Schule, der auch Michelet angehörte,
ist sehr hoch anzuschlagen. Wenn ein Ablenken von der verderblichen Bahn,
welche die französische Geschichte seit Jahrhunderten eingeschlagen hatte, über¬
haupt möglich war, so konnte es nur durch Vermittelung historischer Stu¬
dien, durch Erweckung des geschichtlichen Sinnes erzielt werden. Alexis
von Tocqueville, der mit scharfem Blick sowohl den Sitz des Uebels, als auch
das einzig mögliche Heilmittel, den Bruch mit dem unseligen, revolutionären
Centralisationsprincip, erkannte, stand auf den Schultern der historischen
Schule. Aber daß er tauben Ohren predigte, ist auch der handgreiflichste
Beweis für die Fruchtlosigkeit aller Bemühungen, die Franzosen in die Ge-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_359152/493>, abgerufen am 22.07.2024.