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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, I. Band.

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Italienische Aeisebilder
von Karl Stieler. 1. Venedig.

Mitternacht ist vorüber. Durch die engen Kanäle streicht eine Barke,
wie ein schwarzer Schatten erscheint die Gestalt des Gondoliers, wie ein
Gradeslaut tönt der Ruf M ö, gia ö, so oft die Gondel um die Ecke
schießt.

Wohl stand der Mond am Himmel, aber er reichte nicht in diese schmalen
feuchten Gassen, nur wenige flimmernde Sterne blinken zwischen den thurm¬
hohen Häusern, nur ab und zu glimmt noch ein spätes Licht an den ver¬
gitterten Fenstern. Horch, wer ist dort? - Hinter der halbgeöffneten Thüre,
die fast an den Spiegel des Wassers reicht, späht ein Mädchen hervor und
huscht zurück, denn das ist nicht die Gondel, die sie erwartet. Dort auf den
steinernen Stufen, die von der Pforte zum Wasser führen, liegen die Schläfer;
nur manchmal noch streift eine Gondel an uns vorbei, so dicht, daß sich die
Flanken beinahe berühren, mit geheimnißvollem Zeichen grüßen die Schiffer
und mit wachsamen Augen schauen wir die vermummten Gestalten an. die
drüben in den Kissen lehnen. Dann ist es wieder stille, nur das Wasser
hört man. das am Kiel vorüberrauscht, nur den Ruderschlag, bis auch dieser
manchmal inne hält.

Wir horchen auf und nun dringen wunderbare Laute an unser Ohr;
weit drüben über dem Lido rauscht das Meer, in das der Doge einst den
goldenen Ring zum Zeichen seiner Vermählung warf, es ist die Zeit der
Fluth, die langsam über die Lagunen steigt bis hinein in den Lanal 6ramis,
wo die Palläste der alten stolzen Geschlechter stehen:


Alles still, stumm, (schweigt) -- das Meer nur athmet.
Und mit tiefem Klagelaut
Pocht an der Palläste Pforten
Die verwaiste Dogenbraut.

(K. Se.)

Wahrhaftig das ist es. was wir zu hören glauben, wir fühlen die
harrende Macht des Meeres, aber wir fehen es nicht, wir sind gefangen in


Grenzboten III. 1811.
Italienische Aeisebilder
von Karl Stieler. 1. Venedig.

Mitternacht ist vorüber. Durch die engen Kanäle streicht eine Barke,
wie ein schwarzer Schatten erscheint die Gestalt des Gondoliers, wie ein
Gradeslaut tönt der Ruf M ö, gia ö, so oft die Gondel um die Ecke
schießt.

Wohl stand der Mond am Himmel, aber er reichte nicht in diese schmalen
feuchten Gassen, nur wenige flimmernde Sterne blinken zwischen den thurm¬
hohen Häusern, nur ab und zu glimmt noch ein spätes Licht an den ver¬
gitterten Fenstern. Horch, wer ist dort? - Hinter der halbgeöffneten Thüre,
die fast an den Spiegel des Wassers reicht, späht ein Mädchen hervor und
huscht zurück, denn das ist nicht die Gondel, die sie erwartet. Dort auf den
steinernen Stufen, die von der Pforte zum Wasser führen, liegen die Schläfer;
nur manchmal noch streift eine Gondel an uns vorbei, so dicht, daß sich die
Flanken beinahe berühren, mit geheimnißvollem Zeichen grüßen die Schiffer
und mit wachsamen Augen schauen wir die vermummten Gestalten an. die
drüben in den Kissen lehnen. Dann ist es wieder stille, nur das Wasser
hört man. das am Kiel vorüberrauscht, nur den Ruderschlag, bis auch dieser
manchmal inne hält.

Wir horchen auf und nun dringen wunderbare Laute an unser Ohr;
weit drüben über dem Lido rauscht das Meer, in das der Doge einst den
goldenen Ring zum Zeichen seiner Vermählung warf, es ist die Zeit der
Fluth, die langsam über die Lagunen steigt bis hinein in den Lanal 6ramis,
wo die Palläste der alten stolzen Geschlechter stehen:


Alles still, stumm, (schweigt) — das Meer nur athmet.
Und mit tiefem Klagelaut
Pocht an der Palläste Pforten
Die verwaiste Dogenbraut.

(K. Se.)

Wahrhaftig das ist es. was wir zu hören glauben, wir fühlen die
harrende Macht des Meeres, aber wir fehen es nicht, wir sind gefangen in


Grenzboten III. 1811.
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[0049] Italienische Aeisebilder von Karl Stieler. 1. Venedig. Mitternacht ist vorüber. Durch die engen Kanäle streicht eine Barke, wie ein schwarzer Schatten erscheint die Gestalt des Gondoliers, wie ein Gradeslaut tönt der Ruf M ö, gia ö, so oft die Gondel um die Ecke schießt. Wohl stand der Mond am Himmel, aber er reichte nicht in diese schmalen feuchten Gassen, nur wenige flimmernde Sterne blinken zwischen den thurm¬ hohen Häusern, nur ab und zu glimmt noch ein spätes Licht an den ver¬ gitterten Fenstern. Horch, wer ist dort? - Hinter der halbgeöffneten Thüre, die fast an den Spiegel des Wassers reicht, späht ein Mädchen hervor und huscht zurück, denn das ist nicht die Gondel, die sie erwartet. Dort auf den steinernen Stufen, die von der Pforte zum Wasser führen, liegen die Schläfer; nur manchmal noch streift eine Gondel an uns vorbei, so dicht, daß sich die Flanken beinahe berühren, mit geheimnißvollem Zeichen grüßen die Schiffer und mit wachsamen Augen schauen wir die vermummten Gestalten an. die drüben in den Kissen lehnen. Dann ist es wieder stille, nur das Wasser hört man. das am Kiel vorüberrauscht, nur den Ruderschlag, bis auch dieser manchmal inne hält. Wir horchen auf und nun dringen wunderbare Laute an unser Ohr; weit drüben über dem Lido rauscht das Meer, in das der Doge einst den goldenen Ring zum Zeichen seiner Vermählung warf, es ist die Zeit der Fluth, die langsam über die Lagunen steigt bis hinein in den Lanal 6ramis, wo die Palläste der alten stolzen Geschlechter stehen: Alles still, stumm, (schweigt) — das Meer nur athmet. Und mit tiefem Klagelaut Pocht an der Palläste Pforten Die verwaiste Dogenbraut. (K. Se.) Wahrhaftig das ist es. was wir zu hören glauben, wir fühlen die harrende Macht des Meeres, aber wir fehen es nicht, wir sind gefangen in Grenzboten III. 1811.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_359152/49>, abgerufen am 22.07.2024.