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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, I. Band.

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Jules Mchelet.
ii.

Wie umfassend und ausgedehnt Michelet's historische Forschungen auch
waren, der Mittelpunkt, um den sie sich drehen, ist doch das französische Volk
und der französische Staat. Seine französische Geschichte ist in jedem Betracht
das Hauptwerk seines Lebens, die Frucht einer unermüdlichen, von hingeben¬
der Liebe zum Gegenstande und warmer Begeisterung getragenen Arbeit.
Michelet schließt sich mit diesem Werke als ebenbürtiger Genosse der Reihe
der bedeutenden Geschichtsforscher an, die unter dem umgestaltenden und be¬
lebenden Einfluß der romantischen Schule mit den herkömmlichen Vorstellungen
und Ueberlieferungen brachen und den Denkmälern der Vergangenheit selbst
die Züge zu dem wahren Bilde des alten Frankreich entnahmen, das, theils
aus Unkenntniß, theils durch die mannigfaltigsten Parteitendenzen bis zur
Unkenntlichkeit verwischt oder verzerrt war. Es war eine Zeit eifriger und
gediegener Arbeit, eines kraftvollen idealen Strebens, ein Lichtblick in der
Leidensgeschichte Frankreichs seit der Revolution. Und wenn auch im Allge¬
meinen die dem Boden der neuen Verhältnisse entsprossene Literatur, wie kost¬
bare Früchte sie auch gezeitigt hat, wie mächtig auch der Strom idealer Be¬
geisterung war, der das Geistesleben des Volkes befruchtete, grade in ihren
glänzendsten Erscheinungen die Keime der Krankheit und des Verfalles in
sich trug, so machen doch die geschichtlichen Arbeiten der neuen Blüthezeit den
Eindruck frischer Gesundheit und freudigen lebenskräftigen Gedeihens. Die
Revolution hatte den Zuständen, wie sie hervorgegangen waren aus dem cen-
tralisirenden Absolutismus des Königthums, das selbst den oppositionellen
Regungen den Stempel eines ganz bestimmten herkömmlichen Gepräges auf¬
gedrückt hatte, ein gewaltsames, jähes Ende bereitet. Und wenn auch im
Staatsleben die Lösung aller bisherigen Bande nur zu einer um so schrofferen
Centralisation, in der man das einzige Mittel sah, um einen völligen Zerfall
des Staatswesens zu verhüten, geführt hatte, so waren doch die Geister auf
neue Bahnen gewiesen worden. Das Herkommen hatte im Salon, in der
Kunst, in der Literatur seine allgewaltige, keine individuelle Freiheit duldende
Geltung verloren, es war gewissermaßen aus der Mode gekommen. Wohl


Grenzboten III. 1874. 61
Jules Mchelet.
ii.

Wie umfassend und ausgedehnt Michelet's historische Forschungen auch
waren, der Mittelpunkt, um den sie sich drehen, ist doch das französische Volk
und der französische Staat. Seine französische Geschichte ist in jedem Betracht
das Hauptwerk seines Lebens, die Frucht einer unermüdlichen, von hingeben¬
der Liebe zum Gegenstande und warmer Begeisterung getragenen Arbeit.
Michelet schließt sich mit diesem Werke als ebenbürtiger Genosse der Reihe
der bedeutenden Geschichtsforscher an, die unter dem umgestaltenden und be¬
lebenden Einfluß der romantischen Schule mit den herkömmlichen Vorstellungen
und Ueberlieferungen brachen und den Denkmälern der Vergangenheit selbst
die Züge zu dem wahren Bilde des alten Frankreich entnahmen, das, theils
aus Unkenntniß, theils durch die mannigfaltigsten Parteitendenzen bis zur
Unkenntlichkeit verwischt oder verzerrt war. Es war eine Zeit eifriger und
gediegener Arbeit, eines kraftvollen idealen Strebens, ein Lichtblick in der
Leidensgeschichte Frankreichs seit der Revolution. Und wenn auch im Allge¬
meinen die dem Boden der neuen Verhältnisse entsprossene Literatur, wie kost¬
bare Früchte sie auch gezeitigt hat, wie mächtig auch der Strom idealer Be¬
geisterung war, der das Geistesleben des Volkes befruchtete, grade in ihren
glänzendsten Erscheinungen die Keime der Krankheit und des Verfalles in
sich trug, so machen doch die geschichtlichen Arbeiten der neuen Blüthezeit den
Eindruck frischer Gesundheit und freudigen lebenskräftigen Gedeihens. Die
Revolution hatte den Zuständen, wie sie hervorgegangen waren aus dem cen-
tralisirenden Absolutismus des Königthums, das selbst den oppositionellen
Regungen den Stempel eines ganz bestimmten herkömmlichen Gepräges auf¬
gedrückt hatte, ein gewaltsames, jähes Ende bereitet. Und wenn auch im
Staatsleben die Lösung aller bisherigen Bande nur zu einer um so schrofferen
Centralisation, in der man das einzige Mittel sah, um einen völligen Zerfall
des Staatswesens zu verhüten, geführt hatte, so waren doch die Geister auf
neue Bahnen gewiesen worden. Das Herkommen hatte im Salon, in der
Kunst, in der Literatur seine allgewaltige, keine individuelle Freiheit duldende
Geltung verloren, es war gewissermaßen aus der Mode gekommen. Wohl


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[0489] Jules Mchelet. ii. Wie umfassend und ausgedehnt Michelet's historische Forschungen auch waren, der Mittelpunkt, um den sie sich drehen, ist doch das französische Volk und der französische Staat. Seine französische Geschichte ist in jedem Betracht das Hauptwerk seines Lebens, die Frucht einer unermüdlichen, von hingeben¬ der Liebe zum Gegenstande und warmer Begeisterung getragenen Arbeit. Michelet schließt sich mit diesem Werke als ebenbürtiger Genosse der Reihe der bedeutenden Geschichtsforscher an, die unter dem umgestaltenden und be¬ lebenden Einfluß der romantischen Schule mit den herkömmlichen Vorstellungen und Ueberlieferungen brachen und den Denkmälern der Vergangenheit selbst die Züge zu dem wahren Bilde des alten Frankreich entnahmen, das, theils aus Unkenntniß, theils durch die mannigfaltigsten Parteitendenzen bis zur Unkenntlichkeit verwischt oder verzerrt war. Es war eine Zeit eifriger und gediegener Arbeit, eines kraftvollen idealen Strebens, ein Lichtblick in der Leidensgeschichte Frankreichs seit der Revolution. Und wenn auch im Allge¬ meinen die dem Boden der neuen Verhältnisse entsprossene Literatur, wie kost¬ bare Früchte sie auch gezeitigt hat, wie mächtig auch der Strom idealer Be¬ geisterung war, der das Geistesleben des Volkes befruchtete, grade in ihren glänzendsten Erscheinungen die Keime der Krankheit und des Verfalles in sich trug, so machen doch die geschichtlichen Arbeiten der neuen Blüthezeit den Eindruck frischer Gesundheit und freudigen lebenskräftigen Gedeihens. Die Revolution hatte den Zuständen, wie sie hervorgegangen waren aus dem cen- tralisirenden Absolutismus des Königthums, das selbst den oppositionellen Regungen den Stempel eines ganz bestimmten herkömmlichen Gepräges auf¬ gedrückt hatte, ein gewaltsames, jähes Ende bereitet. Und wenn auch im Staatsleben die Lösung aller bisherigen Bande nur zu einer um so schrofferen Centralisation, in der man das einzige Mittel sah, um einen völligen Zerfall des Staatswesens zu verhüten, geführt hatte, so waren doch die Geister auf neue Bahnen gewiesen worden. Das Herkommen hatte im Salon, in der Kunst, in der Literatur seine allgewaltige, keine individuelle Freiheit duldende Geltung verloren, es war gewissermaßen aus der Mode gekommen. Wohl Grenzboten III. 1874. 61

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_359152/489>, abgerufen am 03.07.2024.