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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, I. Band.

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denselben gemachten Erfahrungen fast überall in Deutschland bei der national¬
liberalen Partei das Bestreben kundgegeben, größeren Eifer in Verfolgung
der Parteizwecke zu entfalten und zu diesem Zwecke die eigenen Fehler sich
nicht zu verhehlen, sowie eine größere Organisation der Parteigenossen herbei¬
zuführen. In einem sehr hohen Grade liegen diese Pflichten den Liberalen
in Hessen ob und es liegt im allgemeinen Interesse, ohne Beschönigung auf
die dortigen Zustände hinzuweisen.

Seit 1866 hat sich in Hessen bei allen Wahlen zum Reichstag, zum
Abgeordnetenhause und zum Communallandtage eine erstaunliche Gleichgültig¬
keit der Wähler gezeigt. Die Wenigen, welche es trotz der geringen Aussicht
unternahmen, zur Bethätigung des Gemeinsinns wenigstens in solchen Fällen
aufzufordern, vermochten mit größter Anstrengung eben nur soviel zu erzielen,
daß nicht die reichsseindlichen und illiberalen Parteien zum Siege gelangten,
ja es läßt sich an den Wahlen in den einzelnen Wahlkreisen nachweisen, daß
auch nicht eine Spur Eifer mehr entwickelt wurde, als zu diesem knappen
Siege erforderlich war, und höchst bezeichnend ist es, daß gerade in demjenigen
Wahlkreise, in dem man schon lange eine liberale Wahl für unmöglich hielt,
im Fulda'schen, sich verhältnißmäßig der größte Eifer unter den Liberalen
gezeigt hat; dieselben haben dort auf Grund der Ereignisse von 1866 und
1870 zum ersten Male wieder begonnen, sich selbständig zu regen und,, wenn
auch voraussichtlich noch ohne Aussicht auf Sieg, den ultramontanen Candi-
daten entgegenzutreten. Ihre Erfolge bei den Reichstagswahlen von 1869
waren so groß, daß die Erwartung nicht unberechtigt war, sie würden das
nächste Mal mit den Schwarzen nahezu um den Sieg ringen. Freilich war
dazu eine Unterstützung durch die Liberalen des übrigen Hessens nöthig, die¬
selben aber thaten nichts dazu. Man konnte froh sein, wenn diese mit Ach
und Weh ihre Candidaten durchbrachter. Es fehlte eben, wie schon in den
60er Jahren, alle Organisation. Zwar bildete sich verschiedene Male ein
Centralwahlcomite'. allein jedesmal und noch im October 1873, erst im letzten
Momente vor den Wahlen. Für die übrige lange Zeit, wo die Sache nicht
gerade auf den Nagel brannte, schien Alles zu schlafen. Zweimal im Lause
der letzten Jahre hat man allerdings in Kassel, das dem übrigen Lande
voranzugehen immer noch den Anspruch macht, einen Anlauf zur Bildung
eines das allgemeine und politische Interesse stets rege haltenden Vereins ge¬
macht, allein es haben diese Vereine, namentlich auch der am 23. Juni 1869
gegründete "Verein zur Wahrung bürgerlicher Interessen" kaum etwas mehr
als ihre Constituirung und die Beschlüsse in den die Gründung unmittelbar
veranlassenden, vorwiegend städtischen Angelegenheiten von sich hören lassen.
Jetzt gar, wo der Oberbibliothekar Dr. Bernhardt vor Kurzem gestorben ist,


denselben gemachten Erfahrungen fast überall in Deutschland bei der national¬
liberalen Partei das Bestreben kundgegeben, größeren Eifer in Verfolgung
der Parteizwecke zu entfalten und zu diesem Zwecke die eigenen Fehler sich
nicht zu verhehlen, sowie eine größere Organisation der Parteigenossen herbei¬
zuführen. In einem sehr hohen Grade liegen diese Pflichten den Liberalen
in Hessen ob und es liegt im allgemeinen Interesse, ohne Beschönigung auf
die dortigen Zustände hinzuweisen.

Seit 1866 hat sich in Hessen bei allen Wahlen zum Reichstag, zum
Abgeordnetenhause und zum Communallandtage eine erstaunliche Gleichgültig¬
keit der Wähler gezeigt. Die Wenigen, welche es trotz der geringen Aussicht
unternahmen, zur Bethätigung des Gemeinsinns wenigstens in solchen Fällen
aufzufordern, vermochten mit größter Anstrengung eben nur soviel zu erzielen,
daß nicht die reichsseindlichen und illiberalen Parteien zum Siege gelangten,
ja es läßt sich an den Wahlen in den einzelnen Wahlkreisen nachweisen, daß
auch nicht eine Spur Eifer mehr entwickelt wurde, als zu diesem knappen
Siege erforderlich war, und höchst bezeichnend ist es, daß gerade in demjenigen
Wahlkreise, in dem man schon lange eine liberale Wahl für unmöglich hielt,
im Fulda'schen, sich verhältnißmäßig der größte Eifer unter den Liberalen
gezeigt hat; dieselben haben dort auf Grund der Ereignisse von 1866 und
1870 zum ersten Male wieder begonnen, sich selbständig zu regen und,, wenn
auch voraussichtlich noch ohne Aussicht auf Sieg, den ultramontanen Candi-
daten entgegenzutreten. Ihre Erfolge bei den Reichstagswahlen von 1869
waren so groß, daß die Erwartung nicht unberechtigt war, sie würden das
nächste Mal mit den Schwarzen nahezu um den Sieg ringen. Freilich war
dazu eine Unterstützung durch die Liberalen des übrigen Hessens nöthig, die¬
selben aber thaten nichts dazu. Man konnte froh sein, wenn diese mit Ach
und Weh ihre Candidaten durchbrachter. Es fehlte eben, wie schon in den
60er Jahren, alle Organisation. Zwar bildete sich verschiedene Male ein
Centralwahlcomite'. allein jedesmal und noch im October 1873, erst im letzten
Momente vor den Wahlen. Für die übrige lange Zeit, wo die Sache nicht
gerade auf den Nagel brannte, schien Alles zu schlafen. Zweimal im Lause
der letzten Jahre hat man allerdings in Kassel, das dem übrigen Lande
voranzugehen immer noch den Anspruch macht, einen Anlauf zur Bildung
eines das allgemeine und politische Interesse stets rege haltenden Vereins ge¬
macht, allein es haben diese Vereine, namentlich auch der am 23. Juni 1869
gegründete „Verein zur Wahrung bürgerlicher Interessen" kaum etwas mehr
als ihre Constituirung und die Beschlüsse in den die Gründung unmittelbar
veranlassenden, vorwiegend städtischen Angelegenheiten von sich hören lassen.
Jetzt gar, wo der Oberbibliothekar Dr. Bernhardt vor Kurzem gestorben ist,


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[0484] denselben gemachten Erfahrungen fast überall in Deutschland bei der national¬ liberalen Partei das Bestreben kundgegeben, größeren Eifer in Verfolgung der Parteizwecke zu entfalten und zu diesem Zwecke die eigenen Fehler sich nicht zu verhehlen, sowie eine größere Organisation der Parteigenossen herbei¬ zuführen. In einem sehr hohen Grade liegen diese Pflichten den Liberalen in Hessen ob und es liegt im allgemeinen Interesse, ohne Beschönigung auf die dortigen Zustände hinzuweisen. Seit 1866 hat sich in Hessen bei allen Wahlen zum Reichstag, zum Abgeordnetenhause und zum Communallandtage eine erstaunliche Gleichgültig¬ keit der Wähler gezeigt. Die Wenigen, welche es trotz der geringen Aussicht unternahmen, zur Bethätigung des Gemeinsinns wenigstens in solchen Fällen aufzufordern, vermochten mit größter Anstrengung eben nur soviel zu erzielen, daß nicht die reichsseindlichen und illiberalen Parteien zum Siege gelangten, ja es läßt sich an den Wahlen in den einzelnen Wahlkreisen nachweisen, daß auch nicht eine Spur Eifer mehr entwickelt wurde, als zu diesem knappen Siege erforderlich war, und höchst bezeichnend ist es, daß gerade in demjenigen Wahlkreise, in dem man schon lange eine liberale Wahl für unmöglich hielt, im Fulda'schen, sich verhältnißmäßig der größte Eifer unter den Liberalen gezeigt hat; dieselben haben dort auf Grund der Ereignisse von 1866 und 1870 zum ersten Male wieder begonnen, sich selbständig zu regen und,, wenn auch voraussichtlich noch ohne Aussicht auf Sieg, den ultramontanen Candi- daten entgegenzutreten. Ihre Erfolge bei den Reichstagswahlen von 1869 waren so groß, daß die Erwartung nicht unberechtigt war, sie würden das nächste Mal mit den Schwarzen nahezu um den Sieg ringen. Freilich war dazu eine Unterstützung durch die Liberalen des übrigen Hessens nöthig, die¬ selben aber thaten nichts dazu. Man konnte froh sein, wenn diese mit Ach und Weh ihre Candidaten durchbrachter. Es fehlte eben, wie schon in den 60er Jahren, alle Organisation. Zwar bildete sich verschiedene Male ein Centralwahlcomite'. allein jedesmal und noch im October 1873, erst im letzten Momente vor den Wahlen. Für die übrige lange Zeit, wo die Sache nicht gerade auf den Nagel brannte, schien Alles zu schlafen. Zweimal im Lause der letzten Jahre hat man allerdings in Kassel, das dem übrigen Lande voranzugehen immer noch den Anspruch macht, einen Anlauf zur Bildung eines das allgemeine und politische Interesse stets rege haltenden Vereins ge¬ macht, allein es haben diese Vereine, namentlich auch der am 23. Juni 1869 gegründete „Verein zur Wahrung bürgerlicher Interessen" kaum etwas mehr als ihre Constituirung und die Beschlüsse in den die Gründung unmittelbar veranlassenden, vorwiegend städtischen Angelegenheiten von sich hören lassen. Jetzt gar, wo der Oberbibliothekar Dr. Bernhardt vor Kurzem gestorben ist,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_359152/484>, abgerufen am 22.07.2024.