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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, I. Band.

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sofort zusammenstürzt, sowie seine Grundlage durch einen neuen Gedanken,
einen neuen Einfall erschüttert oder aus der Seele des phantasiereichen oft
phantastischen Dichterphilosophen verdrängt wird. Es läßt sich eben nur im
Allgemeinen behaupten, daß er sich gerne einer religiösen Stimmung hingiebt;
Gott ist ihm in solchen Stimmungen die in dem Weltall wirkende Kraft,
in der Natur, wie in der Menschheit; in der Geschichte der Menschheit ent¬
wickelt sich gewissermaßen der Geist Gottes; die im Volke lebenden Ideen
sind eine Offenbarung der Gottheit, die ihre unwiderstehliche Gewalt an
jedem Einzelnen beweist: grade wie im staatlichen und gesellschaftlichen Leben
das Volk Alles, der Einzelne nur ein, sei es willig, sei es widerwillig
dienendes Werkzeug des Volkes und der im Volke sich entwickelnden Ideen
ist. Man sieht, wie hier sein demokratisches Ideal sich mit seiner religiösen
Weltanschauung nahe berührt.

Aber wo bleibt da der freie Wille, den er an anderen Stellen so lebhaft
gegen die göttliche Allmacht, wie auf politischem Gebiete gegen jeden äußeren
Zwang vertheidigt, wo bleibt das freie unabhängige Ich? In Michelet's
Metaphysik scheint doch für die Selbständigkeit des Individuums, für seine
sittliche Verantwortlichkeit kein Raum zur Entfaltung übrig gelassen zu sein.
Man sollte meinen, daß er, sobald er sich auf das theologische Gebiet begiebt
und über die Natur des Bösen reflectirt -- und das geschieht nicht selten --
eine Vorliebe für Augustinus hätte. Aber gerade das Gegentheil -- und
das ist wieder für die proteusartige Wandelbarkeit des geistvollen Mannes im
hohen Grade bezeichnend -- ist der Fall. In den Zeiten allerdings, wo er
ganz seinen historischen Studien lebte, ist Michelet unbefangen genug, die
geschichtliche Bedeutung der augustinischen Lehre für die Entwickelung des
frühen Mittelalters zu würdigen, und ihr eine gewisse Berechtigung zuzu-
gestehn. Nicht ohne Grund, sagt er, kämpfte der große Bischof von Hippo
so heftig gegen Pelagius an. "Wozu hätte der trockne Rationalismus der
Pelagianer beim Herannahen der germanischen Invasion gedient? Nicht die
stolze Freiheitslehre mußte man den Eroberern des römischen Reiches predigen,
sondern die Abhängigkeit des Menschen von der Allmacht Gottes." Aber
der Keim war, fügt er hinzu, in den Boden gesenkt, er sollte seine Frucht
bringen zu seiner Zeit. In allerdings schiefer Auffassung behauptet er eine
nabe Verwandtschaft des hellenischen und celrischen Geistes. Der hellentsch-
cettische Geist hat sich durch Pelagius in der Religionsphilosophie enthüllt;
es ist der Geist des unabhängigen Ich, der freien Persönlichkeit. Das ganz
verschieden geartete germanische Element schickt sich an, gegen ihn zu ringen,
nöthigt ihn, sich zu rechifertigen, sich zu entwickeln. Alles zu entfalten, was
in ihm liegt. Das Mittelalter ist der Kampf; die neue Zeit ist der Sieg.

Wie viel man im Einzelnen gegen die eben angeführten Urtheile


sofort zusammenstürzt, sowie seine Grundlage durch einen neuen Gedanken,
einen neuen Einfall erschüttert oder aus der Seele des phantasiereichen oft
phantastischen Dichterphilosophen verdrängt wird. Es läßt sich eben nur im
Allgemeinen behaupten, daß er sich gerne einer religiösen Stimmung hingiebt;
Gott ist ihm in solchen Stimmungen die in dem Weltall wirkende Kraft,
in der Natur, wie in der Menschheit; in der Geschichte der Menschheit ent¬
wickelt sich gewissermaßen der Geist Gottes; die im Volke lebenden Ideen
sind eine Offenbarung der Gottheit, die ihre unwiderstehliche Gewalt an
jedem Einzelnen beweist: grade wie im staatlichen und gesellschaftlichen Leben
das Volk Alles, der Einzelne nur ein, sei es willig, sei es widerwillig
dienendes Werkzeug des Volkes und der im Volke sich entwickelnden Ideen
ist. Man sieht, wie hier sein demokratisches Ideal sich mit seiner religiösen
Weltanschauung nahe berührt.

Aber wo bleibt da der freie Wille, den er an anderen Stellen so lebhaft
gegen die göttliche Allmacht, wie auf politischem Gebiete gegen jeden äußeren
Zwang vertheidigt, wo bleibt das freie unabhängige Ich? In Michelet's
Metaphysik scheint doch für die Selbständigkeit des Individuums, für seine
sittliche Verantwortlichkeit kein Raum zur Entfaltung übrig gelassen zu sein.
Man sollte meinen, daß er, sobald er sich auf das theologische Gebiet begiebt
und über die Natur des Bösen reflectirt — und das geschieht nicht selten —
eine Vorliebe für Augustinus hätte. Aber gerade das Gegentheil — und
das ist wieder für die proteusartige Wandelbarkeit des geistvollen Mannes im
hohen Grade bezeichnend — ist der Fall. In den Zeiten allerdings, wo er
ganz seinen historischen Studien lebte, ist Michelet unbefangen genug, die
geschichtliche Bedeutung der augustinischen Lehre für die Entwickelung des
frühen Mittelalters zu würdigen, und ihr eine gewisse Berechtigung zuzu-
gestehn. Nicht ohne Grund, sagt er, kämpfte der große Bischof von Hippo
so heftig gegen Pelagius an. „Wozu hätte der trockne Rationalismus der
Pelagianer beim Herannahen der germanischen Invasion gedient? Nicht die
stolze Freiheitslehre mußte man den Eroberern des römischen Reiches predigen,
sondern die Abhängigkeit des Menschen von der Allmacht Gottes." Aber
der Keim war, fügt er hinzu, in den Boden gesenkt, er sollte seine Frucht
bringen zu seiner Zeit. In allerdings schiefer Auffassung behauptet er eine
nabe Verwandtschaft des hellenischen und celrischen Geistes. Der hellentsch-
cettische Geist hat sich durch Pelagius in der Religionsphilosophie enthüllt;
es ist der Geist des unabhängigen Ich, der freien Persönlichkeit. Das ganz
verschieden geartete germanische Element schickt sich an, gegen ihn zu ringen,
nöthigt ihn, sich zu rechifertigen, sich zu entwickeln. Alles zu entfalten, was
in ihm liegt. Das Mittelalter ist der Kampf; die neue Zeit ist der Sieg.

Wie viel man im Einzelnen gegen die eben angeführten Urtheile


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[0455] sofort zusammenstürzt, sowie seine Grundlage durch einen neuen Gedanken, einen neuen Einfall erschüttert oder aus der Seele des phantasiereichen oft phantastischen Dichterphilosophen verdrängt wird. Es läßt sich eben nur im Allgemeinen behaupten, daß er sich gerne einer religiösen Stimmung hingiebt; Gott ist ihm in solchen Stimmungen die in dem Weltall wirkende Kraft, in der Natur, wie in der Menschheit; in der Geschichte der Menschheit ent¬ wickelt sich gewissermaßen der Geist Gottes; die im Volke lebenden Ideen sind eine Offenbarung der Gottheit, die ihre unwiderstehliche Gewalt an jedem Einzelnen beweist: grade wie im staatlichen und gesellschaftlichen Leben das Volk Alles, der Einzelne nur ein, sei es willig, sei es widerwillig dienendes Werkzeug des Volkes und der im Volke sich entwickelnden Ideen ist. Man sieht, wie hier sein demokratisches Ideal sich mit seiner religiösen Weltanschauung nahe berührt. Aber wo bleibt da der freie Wille, den er an anderen Stellen so lebhaft gegen die göttliche Allmacht, wie auf politischem Gebiete gegen jeden äußeren Zwang vertheidigt, wo bleibt das freie unabhängige Ich? In Michelet's Metaphysik scheint doch für die Selbständigkeit des Individuums, für seine sittliche Verantwortlichkeit kein Raum zur Entfaltung übrig gelassen zu sein. Man sollte meinen, daß er, sobald er sich auf das theologische Gebiet begiebt und über die Natur des Bösen reflectirt — und das geschieht nicht selten — eine Vorliebe für Augustinus hätte. Aber gerade das Gegentheil — und das ist wieder für die proteusartige Wandelbarkeit des geistvollen Mannes im hohen Grade bezeichnend — ist der Fall. In den Zeiten allerdings, wo er ganz seinen historischen Studien lebte, ist Michelet unbefangen genug, die geschichtliche Bedeutung der augustinischen Lehre für die Entwickelung des frühen Mittelalters zu würdigen, und ihr eine gewisse Berechtigung zuzu- gestehn. Nicht ohne Grund, sagt er, kämpfte der große Bischof von Hippo so heftig gegen Pelagius an. „Wozu hätte der trockne Rationalismus der Pelagianer beim Herannahen der germanischen Invasion gedient? Nicht die stolze Freiheitslehre mußte man den Eroberern des römischen Reiches predigen, sondern die Abhängigkeit des Menschen von der Allmacht Gottes." Aber der Keim war, fügt er hinzu, in den Boden gesenkt, er sollte seine Frucht bringen zu seiner Zeit. In allerdings schiefer Auffassung behauptet er eine nabe Verwandtschaft des hellenischen und celrischen Geistes. Der hellentsch- cettische Geist hat sich durch Pelagius in der Religionsphilosophie enthüllt; es ist der Geist des unabhängigen Ich, der freien Persönlichkeit. Das ganz verschieden geartete germanische Element schickt sich an, gegen ihn zu ringen, nöthigt ihn, sich zu rechifertigen, sich zu entwickeln. Alles zu entfalten, was in ihm liegt. Das Mittelalter ist der Kampf; die neue Zeit ist der Sieg. Wie viel man im Einzelnen gegen die eben angeführten Urtheile

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_359152/455>, abgerufen am 22.07.2024.