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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, I. Band.

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Michelet's Eigenart in dem Verhältniß zu den religiösen Fragen vielleicht
ihren schärfsten Ausdruck findet.

Es ist in der That bezeichnend, daß Michelet den Grund zu seiner
großen Popularität legte durch seine heftigen Angriffe gegen den Ultramon¬
tanismus und insbesondere gegen die Jesuiten, welche in der ersten Zeit der
Verwaltung Guizot's immer mächtiger um sich gegriffen, und neuen Einfluß
gewonnen hatten, der die Liberalen mit großer Sorge erfüllte. Die Heftig¬
keit, mit welcher er in seinen Vorträgen gegen sie auftrat, erregte großes
Aufsehen und verwickelte ihn in endlose und erbitterte Fehden mit der ultra¬
montanen Partei, die durch eine mit Quinet gemeinschaftlich im Jahre 1843
herausgegebene, die akademischen Vorträge auszugsweise reproducirende und
mit Einleitungen aufflatterte Flugschrift "ciss ^ösuites" (1843) neue Nahrung
erhielten. In der Leidenschaft des Kampfes arbeitete er sich mehr und mehr
in eine feindselige Stimmung gegen alle positive Religion hinein. Sich gleich¬
gültig und neutral nach irgend einer Seite hin zu verhalten, lag nicht in seiner
Natur, die feurig und begeistert in der Liebe, auch starr und unversöhnlich im
Hasse war. Und zumal auf kirchlichem Gebiete war seiner im Grunde tief
religiös angelegten Individualität eine lebendige leidenschaftliche Theilnahme
unerläßlich. Er ist hin und wieder atheistischer Ansichten beschuldigt worden;
der Vorwurf ist aber ungerecht, wenn auch in seinen späteren Schriften bei
der Beweglichkeit seines Geistes und dem raschen Wechsel der Empfindungen
sich manche Stellen finden, die eine Hinneigung zu atheistisch-materialistischer
Theorie zeigen. Auf einzelnen Stellen darf man sich aber, wenn man sein
Wesen auffassen will, nie berufen. Wie er in seinen späteren Schriften jeden
ihm ausstoßenden Gedanken zu einer Episode durch- und auszuarbeiten liebt,
so ist auch, wenn wir uns so ausdrücken dürfen, in der Entwickelung seiner
Individualität der Episode ein sehr weiter und freier Spielraum gestattet,
und es ist daher begreiflich, daß unter den Eindrücken der in späteren Jahren
leidenschaftlich betriebenen naturwissenschaftlichen Studien gelegentlich materia¬
listische Anschauungen sich seiner bemächtigen, daß er die seelische Thätigkeit
in übertriebener Weise von körperlichen Functionen abhängig macht, daß ihm
die Psychologie zur Physiologie wird. Doch das sind gelegentliche Anwand¬
lungen, mehr von augenblicklichen Stimmungen bedingt und durch gelegent¬
liche Studien angeregt, als in seiner Gesammtindividualität begründet. Seine
philosophisch-religiöse Anschauung ist vielmehr spiritualistisch, er hat im
Ganzen Neigung zu einem hin und wieder mystisch gefärbten Pantheismus.
Ein durchgebildetes System darf man freilich nicht suchen bei einem Manne,
der die Gabe hat, jede Empfindung unter dem Eindruck einer augenblicklichen
Stimmung zu verallgemeinern und auf der schwankenden Grundlage eines
ganz subjectiven Gefühls ein philosophisches Kartenhaus aufzubauen, das


Michelet's Eigenart in dem Verhältniß zu den religiösen Fragen vielleicht
ihren schärfsten Ausdruck findet.

Es ist in der That bezeichnend, daß Michelet den Grund zu seiner
großen Popularität legte durch seine heftigen Angriffe gegen den Ultramon¬
tanismus und insbesondere gegen die Jesuiten, welche in der ersten Zeit der
Verwaltung Guizot's immer mächtiger um sich gegriffen, und neuen Einfluß
gewonnen hatten, der die Liberalen mit großer Sorge erfüllte. Die Heftig¬
keit, mit welcher er in seinen Vorträgen gegen sie auftrat, erregte großes
Aufsehen und verwickelte ihn in endlose und erbitterte Fehden mit der ultra¬
montanen Partei, die durch eine mit Quinet gemeinschaftlich im Jahre 1843
herausgegebene, die akademischen Vorträge auszugsweise reproducirende und
mit Einleitungen aufflatterte Flugschrift „ciss ^ösuites" (1843) neue Nahrung
erhielten. In der Leidenschaft des Kampfes arbeitete er sich mehr und mehr
in eine feindselige Stimmung gegen alle positive Religion hinein. Sich gleich¬
gültig und neutral nach irgend einer Seite hin zu verhalten, lag nicht in seiner
Natur, die feurig und begeistert in der Liebe, auch starr und unversöhnlich im
Hasse war. Und zumal auf kirchlichem Gebiete war seiner im Grunde tief
religiös angelegten Individualität eine lebendige leidenschaftliche Theilnahme
unerläßlich. Er ist hin und wieder atheistischer Ansichten beschuldigt worden;
der Vorwurf ist aber ungerecht, wenn auch in seinen späteren Schriften bei
der Beweglichkeit seines Geistes und dem raschen Wechsel der Empfindungen
sich manche Stellen finden, die eine Hinneigung zu atheistisch-materialistischer
Theorie zeigen. Auf einzelnen Stellen darf man sich aber, wenn man sein
Wesen auffassen will, nie berufen. Wie er in seinen späteren Schriften jeden
ihm ausstoßenden Gedanken zu einer Episode durch- und auszuarbeiten liebt,
so ist auch, wenn wir uns so ausdrücken dürfen, in der Entwickelung seiner
Individualität der Episode ein sehr weiter und freier Spielraum gestattet,
und es ist daher begreiflich, daß unter den Eindrücken der in späteren Jahren
leidenschaftlich betriebenen naturwissenschaftlichen Studien gelegentlich materia¬
listische Anschauungen sich seiner bemächtigen, daß er die seelische Thätigkeit
in übertriebener Weise von körperlichen Functionen abhängig macht, daß ihm
die Psychologie zur Physiologie wird. Doch das sind gelegentliche Anwand¬
lungen, mehr von augenblicklichen Stimmungen bedingt und durch gelegent¬
liche Studien angeregt, als in seiner Gesammtindividualität begründet. Seine
philosophisch-religiöse Anschauung ist vielmehr spiritualistisch, er hat im
Ganzen Neigung zu einem hin und wieder mystisch gefärbten Pantheismus.
Ein durchgebildetes System darf man freilich nicht suchen bei einem Manne,
der die Gabe hat, jede Empfindung unter dem Eindruck einer augenblicklichen
Stimmung zu verallgemeinern und auf der schwankenden Grundlage eines
ganz subjectiven Gefühls ein philosophisches Kartenhaus aufzubauen, das


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[0454] Michelet's Eigenart in dem Verhältniß zu den religiösen Fragen vielleicht ihren schärfsten Ausdruck findet. Es ist in der That bezeichnend, daß Michelet den Grund zu seiner großen Popularität legte durch seine heftigen Angriffe gegen den Ultramon¬ tanismus und insbesondere gegen die Jesuiten, welche in der ersten Zeit der Verwaltung Guizot's immer mächtiger um sich gegriffen, und neuen Einfluß gewonnen hatten, der die Liberalen mit großer Sorge erfüllte. Die Heftig¬ keit, mit welcher er in seinen Vorträgen gegen sie auftrat, erregte großes Aufsehen und verwickelte ihn in endlose und erbitterte Fehden mit der ultra¬ montanen Partei, die durch eine mit Quinet gemeinschaftlich im Jahre 1843 herausgegebene, die akademischen Vorträge auszugsweise reproducirende und mit Einleitungen aufflatterte Flugschrift „ciss ^ösuites" (1843) neue Nahrung erhielten. In der Leidenschaft des Kampfes arbeitete er sich mehr und mehr in eine feindselige Stimmung gegen alle positive Religion hinein. Sich gleich¬ gültig und neutral nach irgend einer Seite hin zu verhalten, lag nicht in seiner Natur, die feurig und begeistert in der Liebe, auch starr und unversöhnlich im Hasse war. Und zumal auf kirchlichem Gebiete war seiner im Grunde tief religiös angelegten Individualität eine lebendige leidenschaftliche Theilnahme unerläßlich. Er ist hin und wieder atheistischer Ansichten beschuldigt worden; der Vorwurf ist aber ungerecht, wenn auch in seinen späteren Schriften bei der Beweglichkeit seines Geistes und dem raschen Wechsel der Empfindungen sich manche Stellen finden, die eine Hinneigung zu atheistisch-materialistischer Theorie zeigen. Auf einzelnen Stellen darf man sich aber, wenn man sein Wesen auffassen will, nie berufen. Wie er in seinen späteren Schriften jeden ihm ausstoßenden Gedanken zu einer Episode durch- und auszuarbeiten liebt, so ist auch, wenn wir uns so ausdrücken dürfen, in der Entwickelung seiner Individualität der Episode ein sehr weiter und freier Spielraum gestattet, und es ist daher begreiflich, daß unter den Eindrücken der in späteren Jahren leidenschaftlich betriebenen naturwissenschaftlichen Studien gelegentlich materia¬ listische Anschauungen sich seiner bemächtigen, daß er die seelische Thätigkeit in übertriebener Weise von körperlichen Functionen abhängig macht, daß ihm die Psychologie zur Physiologie wird. Doch das sind gelegentliche Anwand¬ lungen, mehr von augenblicklichen Stimmungen bedingt und durch gelegent¬ liche Studien angeregt, als in seiner Gesammtindividualität begründet. Seine philosophisch-religiöse Anschauung ist vielmehr spiritualistisch, er hat im Ganzen Neigung zu einem hin und wieder mystisch gefärbten Pantheismus. Ein durchgebildetes System darf man freilich nicht suchen bei einem Manne, der die Gabe hat, jede Empfindung unter dem Eindruck einer augenblicklichen Stimmung zu verallgemeinern und auf der schwankenden Grundlage eines ganz subjectiven Gefühls ein philosophisches Kartenhaus aufzubauen, das

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_359152/454>, abgerufen am 22.07.2024.