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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, I. Band.

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Zufall, sondern wie schon bemerkt, der in beständigem Fortschreiten begriffene
Geist des Volkes, der selbst von den in der Gesammtheit der Menschheit
wirkenden Ideen bedingt, doch in sich selbst die Gesetze seiner Entwickelung
trägt. Von dem kosmopolitischen Radicalismus, der die Eigenart der Na"
tionalitäten und ihre Berechtigung, ihr Dasein nach ihren eigenen Lebensge¬
setzen im Unterschiede, ja selbst im Gegensatz zu andern Nationalitäten zu
gestalten, für einen zu überwindenden Standpunkt erklärt, hält sich Michelet
im Allgemeinen fern; im Allgemeinen, denn gelegentliche Inconsequenzen
dürfen bei diesem beweglichen, bei aller Schärfe des Verstandes von einer oft
im Uebermaß thätigen Einbildungskraft beherrschten Geiste nicht auffallen.
Aber gerade vor den Ausschreitungen des kosmopolitischen Idealismus, der
seiner Natur an sich nicht fremd ist, ist Michelet durch die Energie seines
französischen Nationalgefühls meist geschützt. Er hat in dieser Beziehung eine
gewisse Aehnlichkeit mit dem übrigens geistig tief unter ihm stehenden Gam-
betta, der ihm in den letzten Jahren nahe stand und für dessen "Il.eMlzIiyuö
er auch thätig gewesen sein soll. In der That erinnern die ge¬
legentlichen Bußpredigten ^ dieses Blattes, denen doch immer der unerschütter¬
liche Glaube an die geistige Ueberlegenheit und den unveräußerlichen Herrscher¬
beruf der französischen Nation zu Grunde liegt, oft lebhaft an manche Stellen
in Michelet's Werken.

Ein Schriftsteller, der in so hervorragender Weise als Typus des fran¬
zösischen Nationalcharakters zu betrachten ist, wie Michelet, mußte in seiner
persönlichen, wie in seiner wissenschaftlichen Entwickelung den Wandlungen
folgen, welche während seiner langen litterarischen Laufbahn der Geist seines
Volkes durchmachte. Ohne sich selbst in hervorragender Weise thätig an der
Politik zu betheiligen, gab er sich doch mit leidenschaftlichem Eifer und einem
fast naiven Vertrauen auf die Unfehlbarkeit aller fortschrittlichen Bestrebungen
dem Einfluß der demokratischen Strömungen hin, die das französische Volk
in ihren Strudel fortrissen. Als er im Jahre 1830 als Guizot's Stell¬
vertreter den geschichtlichen Lehrstuhl der Sorbonne bestieg, wich er in
seinen politischen und socialen Ansichten schwerlich weit von denen des
berühmten Führers der Doctrinäre ab. der seinen geschichtlichen Studien mit
der wärmsten Theilnahme folgte. Aber dies freundschaftliche Verhältniß der
beiden nach Charakter und Temperament grundverschiedenen Männer war
nicht von langer Dauer. Während Guizot, von wachsendem Mißtrauen
gegen jede Regung, die sich der Einwirkung des herrschenden Bürgerthums
zu entziehen suchte, erfüllt, seine gewaltige Kraft in zähem Widerstände gegen
die immer schärfer hervortretenden demokratischen Tendenzen übte, zugleich
aber auch aufrieb und abnutzte, stellte sich Michelet in dem Kampf der radi-
calen Demokratie gegen die Bourgeoisie und das Julikönigthum immer ent-


Zufall, sondern wie schon bemerkt, der in beständigem Fortschreiten begriffene
Geist des Volkes, der selbst von den in der Gesammtheit der Menschheit
wirkenden Ideen bedingt, doch in sich selbst die Gesetze seiner Entwickelung
trägt. Von dem kosmopolitischen Radicalismus, der die Eigenart der Na«
tionalitäten und ihre Berechtigung, ihr Dasein nach ihren eigenen Lebensge¬
setzen im Unterschiede, ja selbst im Gegensatz zu andern Nationalitäten zu
gestalten, für einen zu überwindenden Standpunkt erklärt, hält sich Michelet
im Allgemeinen fern; im Allgemeinen, denn gelegentliche Inconsequenzen
dürfen bei diesem beweglichen, bei aller Schärfe des Verstandes von einer oft
im Uebermaß thätigen Einbildungskraft beherrschten Geiste nicht auffallen.
Aber gerade vor den Ausschreitungen des kosmopolitischen Idealismus, der
seiner Natur an sich nicht fremd ist, ist Michelet durch die Energie seines
französischen Nationalgefühls meist geschützt. Er hat in dieser Beziehung eine
gewisse Aehnlichkeit mit dem übrigens geistig tief unter ihm stehenden Gam-
betta, der ihm in den letzten Jahren nahe stand und für dessen „Il.eMlzIiyuö
er auch thätig gewesen sein soll. In der That erinnern die ge¬
legentlichen Bußpredigten ^ dieses Blattes, denen doch immer der unerschütter¬
liche Glaube an die geistige Ueberlegenheit und den unveräußerlichen Herrscher¬
beruf der französischen Nation zu Grunde liegt, oft lebhaft an manche Stellen
in Michelet's Werken.

Ein Schriftsteller, der in so hervorragender Weise als Typus des fran¬
zösischen Nationalcharakters zu betrachten ist, wie Michelet, mußte in seiner
persönlichen, wie in seiner wissenschaftlichen Entwickelung den Wandlungen
folgen, welche während seiner langen litterarischen Laufbahn der Geist seines
Volkes durchmachte. Ohne sich selbst in hervorragender Weise thätig an der
Politik zu betheiligen, gab er sich doch mit leidenschaftlichem Eifer und einem
fast naiven Vertrauen auf die Unfehlbarkeit aller fortschrittlichen Bestrebungen
dem Einfluß der demokratischen Strömungen hin, die das französische Volk
in ihren Strudel fortrissen. Als er im Jahre 1830 als Guizot's Stell¬
vertreter den geschichtlichen Lehrstuhl der Sorbonne bestieg, wich er in
seinen politischen und socialen Ansichten schwerlich weit von denen des
berühmten Führers der Doctrinäre ab. der seinen geschichtlichen Studien mit
der wärmsten Theilnahme folgte. Aber dies freundschaftliche Verhältniß der
beiden nach Charakter und Temperament grundverschiedenen Männer war
nicht von langer Dauer. Während Guizot, von wachsendem Mißtrauen
gegen jede Regung, die sich der Einwirkung des herrschenden Bürgerthums
zu entziehen suchte, erfüllt, seine gewaltige Kraft in zähem Widerstände gegen
die immer schärfer hervortretenden demokratischen Tendenzen übte, zugleich
aber auch aufrieb und abnutzte, stellte sich Michelet in dem Kampf der radi-
calen Demokratie gegen die Bourgeoisie und das Julikönigthum immer ent-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_359152/452>, abgerufen am 22.07.2024.