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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, I. Band.

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aufgedrückt. Der gallische Ungestüm, der gallische Leichtsinn, die gallische
Sinnlichkeit, die gallische Prahlerei tadelt Michelet oft mit Schärfe an dem
modernen Franzosen, dem Kinde des 19. Jahrhunderts. Im Grunde aber
sind ihm alle diese Fehler doch nur Uebertreibungen und zum Theil nicht
eben unliebenswürdige Uebertreibungen jener Eigenschaften, in Folge deren
nach seiner Ansicht die Franzosen die vervollkommnungsfähigste Nation der
Welt, die Träger der höchsten civilisatorischen Ideen, die Missionäre der Frei¬
heit und Cultur sind.

Wenige Franzosen haben den Charakter ihres Volkes so scharf erfaßt
wie Michelet, wenige die sonderbare Mischung vielfach widersprechender Eigen¬
schaften des französischen Volkes mit gleicher Liebe und gleicher Kunst zu
einem Gesammtbilde zu gestalten getrachtet. Es fehlt dem Bilde oft genug
an plastischer Bestimmtheit und einheitlicher Abrundung, der allerdings schon
der überaus bewegliche Charakter des darzustellenden Gegenstandes widerstrebt;
aber in der Farbengebung ist Michelet Meister. Mit feinem, durch Studium
und Beobachtung ausgebildetem Gefühl für das Charakteristische, faßt er einen
besonderen Zug auf, um ihn sofort mit der ganzen schöpferischen Energie seiner
dichterischen Einbildungskraft zum Mittelpunkte eines Charakterbildes oder eines
Sittengemäldes zu machen. So reihen sich in seinen späteren halb poetischen halb
philosophischen Schriften in bunter mosaikartiger Zusammensetzung Schilderung
an Schilderung, Gemälde an Gemälde. Oft ist es eine zufällige Ideenassocia-
tion, die seine Aufmerksamkeit auf irgend einen Gegenstand lenkt. Aber gleich¬
viel ob der Gegenstand mit Nothwendigkeit in den Zusammenhang des Ganzen
sich einfügt, oder ob er wie ein fremdartiger Bestandtheil störend den Gang
seiner Darstellung unterbricht: ist er an sich anziehend, so wird der Verfasser
nicht leicht der Versuchung widerstehen, sich selner zu bemächtigen und ihn,
sei es zu einem poetischen Phantasiestück, sei es zu einer philosophischen oder
socialpolitischen Skizze, sei es zu einem psychologischen Genrebilde episodisch
auszuführen. Und gerade in diesen Episoden entfaltet Michelet die ganze
Fülle seiner eigenthümlichen Begabung. Leidenschaftlich im Haß, wie in der
Liebe, erdrückt er den unglücklichen Gegenstand seiner Abneigung und Feind¬
schaft bald unter der Wucht eines mächtigen Pathos, bald verwundet er ihn
auf den Tod mit den scharfen Pfeilen eines schneidenden und bitteren, fast
niemals gemüthlich-humoristischen Witzes und herber Ironie; bald entwirft er
ein reizendes Idyll, voll stillen Familienglücks und ländlichen Friedens, oft
mit bittern Klagen vermischt, daß die Sitten der Gegenwart nur allzuwenig
zu seinen Idealen stimmen; bald tritt der phantasiereiche Dichter, der leiden¬
schaftliche Politiker hinter dem trefflich geschulten Dialektiker zurück, der. oft
von einem paradoxen Einfall angeregt, einen völlig unhaltbaren Gedanken
mit schärfster Logik und Aufbietung der verwegensten Sophistik bis in seine


aufgedrückt. Der gallische Ungestüm, der gallische Leichtsinn, die gallische
Sinnlichkeit, die gallische Prahlerei tadelt Michelet oft mit Schärfe an dem
modernen Franzosen, dem Kinde des 19. Jahrhunderts. Im Grunde aber
sind ihm alle diese Fehler doch nur Uebertreibungen und zum Theil nicht
eben unliebenswürdige Uebertreibungen jener Eigenschaften, in Folge deren
nach seiner Ansicht die Franzosen die vervollkommnungsfähigste Nation der
Welt, die Träger der höchsten civilisatorischen Ideen, die Missionäre der Frei¬
heit und Cultur sind.

Wenige Franzosen haben den Charakter ihres Volkes so scharf erfaßt
wie Michelet, wenige die sonderbare Mischung vielfach widersprechender Eigen¬
schaften des französischen Volkes mit gleicher Liebe und gleicher Kunst zu
einem Gesammtbilde zu gestalten getrachtet. Es fehlt dem Bilde oft genug
an plastischer Bestimmtheit und einheitlicher Abrundung, der allerdings schon
der überaus bewegliche Charakter des darzustellenden Gegenstandes widerstrebt;
aber in der Farbengebung ist Michelet Meister. Mit feinem, durch Studium
und Beobachtung ausgebildetem Gefühl für das Charakteristische, faßt er einen
besonderen Zug auf, um ihn sofort mit der ganzen schöpferischen Energie seiner
dichterischen Einbildungskraft zum Mittelpunkte eines Charakterbildes oder eines
Sittengemäldes zu machen. So reihen sich in seinen späteren halb poetischen halb
philosophischen Schriften in bunter mosaikartiger Zusammensetzung Schilderung
an Schilderung, Gemälde an Gemälde. Oft ist es eine zufällige Ideenassocia-
tion, die seine Aufmerksamkeit auf irgend einen Gegenstand lenkt. Aber gleich¬
viel ob der Gegenstand mit Nothwendigkeit in den Zusammenhang des Ganzen
sich einfügt, oder ob er wie ein fremdartiger Bestandtheil störend den Gang
seiner Darstellung unterbricht: ist er an sich anziehend, so wird der Verfasser
nicht leicht der Versuchung widerstehen, sich selner zu bemächtigen und ihn,
sei es zu einem poetischen Phantasiestück, sei es zu einer philosophischen oder
socialpolitischen Skizze, sei es zu einem psychologischen Genrebilde episodisch
auszuführen. Und gerade in diesen Episoden entfaltet Michelet die ganze
Fülle seiner eigenthümlichen Begabung. Leidenschaftlich im Haß, wie in der
Liebe, erdrückt er den unglücklichen Gegenstand seiner Abneigung und Feind¬
schaft bald unter der Wucht eines mächtigen Pathos, bald verwundet er ihn
auf den Tod mit den scharfen Pfeilen eines schneidenden und bitteren, fast
niemals gemüthlich-humoristischen Witzes und herber Ironie; bald entwirft er
ein reizendes Idyll, voll stillen Familienglücks und ländlichen Friedens, oft
mit bittern Klagen vermischt, daß die Sitten der Gegenwart nur allzuwenig
zu seinen Idealen stimmen; bald tritt der phantasiereiche Dichter, der leiden¬
schaftliche Politiker hinter dem trefflich geschulten Dialektiker zurück, der. oft
von einem paradoxen Einfall angeregt, einen völlig unhaltbaren Gedanken
mit schärfster Logik und Aufbietung der verwegensten Sophistik bis in seine


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[0450] aufgedrückt. Der gallische Ungestüm, der gallische Leichtsinn, die gallische Sinnlichkeit, die gallische Prahlerei tadelt Michelet oft mit Schärfe an dem modernen Franzosen, dem Kinde des 19. Jahrhunderts. Im Grunde aber sind ihm alle diese Fehler doch nur Uebertreibungen und zum Theil nicht eben unliebenswürdige Uebertreibungen jener Eigenschaften, in Folge deren nach seiner Ansicht die Franzosen die vervollkommnungsfähigste Nation der Welt, die Träger der höchsten civilisatorischen Ideen, die Missionäre der Frei¬ heit und Cultur sind. Wenige Franzosen haben den Charakter ihres Volkes so scharf erfaßt wie Michelet, wenige die sonderbare Mischung vielfach widersprechender Eigen¬ schaften des französischen Volkes mit gleicher Liebe und gleicher Kunst zu einem Gesammtbilde zu gestalten getrachtet. Es fehlt dem Bilde oft genug an plastischer Bestimmtheit und einheitlicher Abrundung, der allerdings schon der überaus bewegliche Charakter des darzustellenden Gegenstandes widerstrebt; aber in der Farbengebung ist Michelet Meister. Mit feinem, durch Studium und Beobachtung ausgebildetem Gefühl für das Charakteristische, faßt er einen besonderen Zug auf, um ihn sofort mit der ganzen schöpferischen Energie seiner dichterischen Einbildungskraft zum Mittelpunkte eines Charakterbildes oder eines Sittengemäldes zu machen. So reihen sich in seinen späteren halb poetischen halb philosophischen Schriften in bunter mosaikartiger Zusammensetzung Schilderung an Schilderung, Gemälde an Gemälde. Oft ist es eine zufällige Ideenassocia- tion, die seine Aufmerksamkeit auf irgend einen Gegenstand lenkt. Aber gleich¬ viel ob der Gegenstand mit Nothwendigkeit in den Zusammenhang des Ganzen sich einfügt, oder ob er wie ein fremdartiger Bestandtheil störend den Gang seiner Darstellung unterbricht: ist er an sich anziehend, so wird der Verfasser nicht leicht der Versuchung widerstehen, sich selner zu bemächtigen und ihn, sei es zu einem poetischen Phantasiestück, sei es zu einer philosophischen oder socialpolitischen Skizze, sei es zu einem psychologischen Genrebilde episodisch auszuführen. Und gerade in diesen Episoden entfaltet Michelet die ganze Fülle seiner eigenthümlichen Begabung. Leidenschaftlich im Haß, wie in der Liebe, erdrückt er den unglücklichen Gegenstand seiner Abneigung und Feind¬ schaft bald unter der Wucht eines mächtigen Pathos, bald verwundet er ihn auf den Tod mit den scharfen Pfeilen eines schneidenden und bitteren, fast niemals gemüthlich-humoristischen Witzes und herber Ironie; bald entwirft er ein reizendes Idyll, voll stillen Familienglücks und ländlichen Friedens, oft mit bittern Klagen vermischt, daß die Sitten der Gegenwart nur allzuwenig zu seinen Idealen stimmen; bald tritt der phantasiereiche Dichter, der leiden¬ schaftliche Politiker hinter dem trefflich geschulten Dialektiker zurück, der. oft von einem paradoxen Einfall angeregt, einen völlig unhaltbaren Gedanken mit schärfster Logik und Aufbietung der verwegensten Sophistik bis in seine

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_359152/450>, abgerufen am 22.07.2024.