Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

paar Zahlen und Daten, die zum Theil sogar nicht einmal richtig oder
kritiklos vorgetragen find, wie der Haß und Neid der Zeitgenossen sie ent¬
stellte. Es ist sehr traurig, wenn das Gefühl der Verantwortlichkeit bei der
Abfassung von Werken, die Hüter der theuersten Güter der Nation sein sollten
und direct auf das Volkswissen und Volksgemüth gerichtet sind, und noth¬
wendig beides unbefriedigt lassen müssen, bei den intellectuellen Urhebern
H. B. solcher Unternehmungen nicht lebhafter empfunden wird.




Zur Derfassungsentwickelung des deutschen Aeiches.

Dr. Ledersteger, Des deutschen Reiches Ausbau. Berlin, Verlag
von Eugen Mahlo, 1874. -- Das vorliegende Schriftchen scheint das erste
Debüt eines Publicisten zu sein, der im ernsten Drange und in heiliger Be-
kümmerniß um das Wohl des Vaterlandes zur Feder gegriffen hat, und soll
darum milde beurtheilt werden. Immerhin verdient dieser Versuch wohl eine
genaue Würdigung Seiten aller nationalen Politiker. Der Verfasser hat
tüchtige historische und volkswirthschaftliche Studien gemacht und der Ernst
seines politischen Strebens ist unbestreitbar und durch diese Schrift rühmlich
bezeugt. Auch über die allerseits wahrnehmbaren Symptome einer Erstlings'
arbeit auf diesem Gebiete: die gesuchte Bildlichkeit der Sprache, den erzwungenen
Esprit, die Versuche, dem Leser bei dieser Gelegenheit zu erklären, wie der
Verfasser über alle möglichen Fragen der Zeit denkt u. s. w., würde man sich
wohl hinwegsetzen können. Aber das sind leider nicht die einzigen und nicht
einmal die Hauptmangel der Schrift. Ein größeres Bedenken erwächst dem
Kritiker vielmehr aus der Thatsache, daß die Urtheile des Verfassers über die
wichtigsten Zeitereignisse und -Erscheinungen, namentlich über die national¬
liberale und Fortschrittspartei keineswegs feststehen, sondern in einem der
glücklichen Jugend des Verfassers entsprechenden fortdauernden Wandel be¬
griffen sind, so daß wir zu Anfang und zu Ende der Schrift stark contrastirende
Verbiete über die gedachten Parteien, den eisernen Militairetat ze. erhalten.
Es dient offenbar wenig dem Zwecke, denjenigen Ernst bei dem Leser zu
fördern, von dem der Verfasser ersüllt ist, wenn Letzterer am Ende der Schrift
der nationalliberalen Partei dieselbe Feinfühligkeit für die practischen For¬
derungen der modernen deutschen Politik unseres Kanzlers unter die Partei'
"Schwächen" rechnet, die er in seinem ersten Kapitel in dem "summarischen
Ueberblick der letzten 10 Jahre" nicht hoch genug preisen konnte; oder wenn
er die Conflictsbeharrlichkeit der deutschen Fortschrittspartei in demselben


paar Zahlen und Daten, die zum Theil sogar nicht einmal richtig oder
kritiklos vorgetragen find, wie der Haß und Neid der Zeitgenossen sie ent¬
stellte. Es ist sehr traurig, wenn das Gefühl der Verantwortlichkeit bei der
Abfassung von Werken, die Hüter der theuersten Güter der Nation sein sollten
und direct auf das Volkswissen und Volksgemüth gerichtet sind, und noth¬
wendig beides unbefriedigt lassen müssen, bei den intellectuellen Urhebern
H. B. solcher Unternehmungen nicht lebhafter empfunden wird.




Zur Derfassungsentwickelung des deutschen Aeiches.

Dr. Ledersteger, Des deutschen Reiches Ausbau. Berlin, Verlag
von Eugen Mahlo, 1874. — Das vorliegende Schriftchen scheint das erste
Debüt eines Publicisten zu sein, der im ernsten Drange und in heiliger Be-
kümmerniß um das Wohl des Vaterlandes zur Feder gegriffen hat, und soll
darum milde beurtheilt werden. Immerhin verdient dieser Versuch wohl eine
genaue Würdigung Seiten aller nationalen Politiker. Der Verfasser hat
tüchtige historische und volkswirthschaftliche Studien gemacht und der Ernst
seines politischen Strebens ist unbestreitbar und durch diese Schrift rühmlich
bezeugt. Auch über die allerseits wahrnehmbaren Symptome einer Erstlings'
arbeit auf diesem Gebiete: die gesuchte Bildlichkeit der Sprache, den erzwungenen
Esprit, die Versuche, dem Leser bei dieser Gelegenheit zu erklären, wie der
Verfasser über alle möglichen Fragen der Zeit denkt u. s. w., würde man sich
wohl hinwegsetzen können. Aber das sind leider nicht die einzigen und nicht
einmal die Hauptmangel der Schrift. Ein größeres Bedenken erwächst dem
Kritiker vielmehr aus der Thatsache, daß die Urtheile des Verfassers über die
wichtigsten Zeitereignisse und -Erscheinungen, namentlich über die national¬
liberale und Fortschrittspartei keineswegs feststehen, sondern in einem der
glücklichen Jugend des Verfassers entsprechenden fortdauernden Wandel be¬
griffen sind, so daß wir zu Anfang und zu Ende der Schrift stark contrastirende
Verbiete über die gedachten Parteien, den eisernen Militairetat ze. erhalten.
Es dient offenbar wenig dem Zwecke, denjenigen Ernst bei dem Leser zu
fördern, von dem der Verfasser ersüllt ist, wenn Letzterer am Ende der Schrift
der nationalliberalen Partei dieselbe Feinfühligkeit für die practischen For¬
derungen der modernen deutschen Politik unseres Kanzlers unter die Partei'
„Schwächen" rechnet, die er in seinem ersten Kapitel in dem „summarischen
Ueberblick der letzten 10 Jahre" nicht hoch genug preisen konnte; oder wenn
er die Conflictsbeharrlichkeit der deutschen Fortschrittspartei in demselben


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0324" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/132018"/>
          <p xml:id="ID_1176" prev="#ID_1175"> paar Zahlen und Daten, die zum Theil sogar nicht einmal richtig oder<lb/>
kritiklos vorgetragen find, wie der Haß und Neid der Zeitgenossen sie ent¬<lb/>
stellte. Es ist sehr traurig, wenn das Gefühl der Verantwortlichkeit bei der<lb/>
Abfassung von Werken, die Hüter der theuersten Güter der Nation sein sollten<lb/>
und direct auf das Volkswissen und Volksgemüth gerichtet sind, und noth¬<lb/>
wendig beides unbefriedigt lassen müssen, bei den intellectuellen Urhebern<lb/><note type="byline"> H. B.</note> solcher Unternehmungen nicht lebhafter empfunden wird. </p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Zur Derfassungsentwickelung des deutschen Aeiches.</head><lb/>
          <p xml:id="ID_1177" next="#ID_1178"> Dr. Ledersteger, Des deutschen Reiches Ausbau. Berlin, Verlag<lb/>
von Eugen Mahlo, 1874. &#x2014; Das vorliegende Schriftchen scheint das erste<lb/>
Debüt eines Publicisten zu sein, der im ernsten Drange und in heiliger Be-<lb/>
kümmerniß um das Wohl des Vaterlandes zur Feder gegriffen hat, und soll<lb/>
darum milde beurtheilt werden. Immerhin verdient dieser Versuch wohl eine<lb/>
genaue Würdigung Seiten aller nationalen Politiker. Der Verfasser hat<lb/>
tüchtige historische und volkswirthschaftliche Studien gemacht und der Ernst<lb/>
seines politischen Strebens ist unbestreitbar und durch diese Schrift rühmlich<lb/>
bezeugt. Auch über die allerseits wahrnehmbaren Symptome einer Erstlings'<lb/>
arbeit auf diesem Gebiete: die gesuchte Bildlichkeit der Sprache, den erzwungenen<lb/>
Esprit, die Versuche, dem Leser bei dieser Gelegenheit zu erklären, wie der<lb/>
Verfasser über alle möglichen Fragen der Zeit denkt u. s. w., würde man sich<lb/>
wohl hinwegsetzen können. Aber das sind leider nicht die einzigen und nicht<lb/>
einmal die Hauptmangel der Schrift. Ein größeres Bedenken erwächst dem<lb/>
Kritiker vielmehr aus der Thatsache, daß die Urtheile des Verfassers über die<lb/>
wichtigsten Zeitereignisse und -Erscheinungen, namentlich über die national¬<lb/>
liberale und Fortschrittspartei keineswegs feststehen, sondern in einem der<lb/>
glücklichen Jugend des Verfassers entsprechenden fortdauernden Wandel be¬<lb/>
griffen sind, so daß wir zu Anfang und zu Ende der Schrift stark contrastirende<lb/>
Verbiete über die gedachten Parteien, den eisernen Militairetat ze. erhalten.<lb/>
Es dient offenbar wenig dem Zwecke, denjenigen Ernst bei dem Leser zu<lb/>
fördern, von dem der Verfasser ersüllt ist, wenn Letzterer am Ende der Schrift<lb/>
der nationalliberalen Partei dieselbe Feinfühligkeit für die practischen For¬<lb/>
derungen der modernen deutschen Politik unseres Kanzlers unter die Partei'<lb/>
&#x201E;Schwächen" rechnet, die er in seinem ersten Kapitel in dem &#x201E;summarischen<lb/>
Ueberblick der letzten 10 Jahre" nicht hoch genug preisen konnte; oder wenn<lb/>
er die Conflictsbeharrlichkeit der deutschen Fortschrittspartei in demselben</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0324] paar Zahlen und Daten, die zum Theil sogar nicht einmal richtig oder kritiklos vorgetragen find, wie der Haß und Neid der Zeitgenossen sie ent¬ stellte. Es ist sehr traurig, wenn das Gefühl der Verantwortlichkeit bei der Abfassung von Werken, die Hüter der theuersten Güter der Nation sein sollten und direct auf das Volkswissen und Volksgemüth gerichtet sind, und noth¬ wendig beides unbefriedigt lassen müssen, bei den intellectuellen Urhebern H. B. solcher Unternehmungen nicht lebhafter empfunden wird. Zur Derfassungsentwickelung des deutschen Aeiches. Dr. Ledersteger, Des deutschen Reiches Ausbau. Berlin, Verlag von Eugen Mahlo, 1874. — Das vorliegende Schriftchen scheint das erste Debüt eines Publicisten zu sein, der im ernsten Drange und in heiliger Be- kümmerniß um das Wohl des Vaterlandes zur Feder gegriffen hat, und soll darum milde beurtheilt werden. Immerhin verdient dieser Versuch wohl eine genaue Würdigung Seiten aller nationalen Politiker. Der Verfasser hat tüchtige historische und volkswirthschaftliche Studien gemacht und der Ernst seines politischen Strebens ist unbestreitbar und durch diese Schrift rühmlich bezeugt. Auch über die allerseits wahrnehmbaren Symptome einer Erstlings' arbeit auf diesem Gebiete: die gesuchte Bildlichkeit der Sprache, den erzwungenen Esprit, die Versuche, dem Leser bei dieser Gelegenheit zu erklären, wie der Verfasser über alle möglichen Fragen der Zeit denkt u. s. w., würde man sich wohl hinwegsetzen können. Aber das sind leider nicht die einzigen und nicht einmal die Hauptmangel der Schrift. Ein größeres Bedenken erwächst dem Kritiker vielmehr aus der Thatsache, daß die Urtheile des Verfassers über die wichtigsten Zeitereignisse und -Erscheinungen, namentlich über die national¬ liberale und Fortschrittspartei keineswegs feststehen, sondern in einem der glücklichen Jugend des Verfassers entsprechenden fortdauernden Wandel be¬ griffen sind, so daß wir zu Anfang und zu Ende der Schrift stark contrastirende Verbiete über die gedachten Parteien, den eisernen Militairetat ze. erhalten. Es dient offenbar wenig dem Zwecke, denjenigen Ernst bei dem Leser zu fördern, von dem der Verfasser ersüllt ist, wenn Letzterer am Ende der Schrift der nationalliberalen Partei dieselbe Feinfühligkeit für die practischen For¬ derungen der modernen deutschen Politik unseres Kanzlers unter die Partei' „Schwächen" rechnet, die er in seinem ersten Kapitel in dem „summarischen Ueberblick der letzten 10 Jahre" nicht hoch genug preisen konnte; oder wenn er die Conflictsbeharrlichkeit der deutschen Fortschrittspartei in demselben

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_359152
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_359152/324
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_359152/324>, abgerufen am 03.07.2024.