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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, I. Band.

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sie die Temperatur; mächtige Dampfwolken erfüllen das Zelt, sodaß man die
eigene Hand dicht vor den Augen nicht mehr sieht; eine brennende Kerze gleicht
dem Hof umringten Mond, ein leichter Sprühregen fällt von der gänzlich
durchnäßten Zeltwand herab, welcher nach beendigter Dampfentwicklung sofort
vereist. Die Feuchtigkeit der Kleider und Decken nimmt auf diese Weise täglich
zu; die Körperwärme ist dazu bestimmt, diese Frostsumme während der Nacht
etwas auszugleichen. -- Die Befriedigung des Durstes, dieses großen Unge¬
machs arktischer Schlittenreisen, durch geschmolzenes Eis, und die Zubereitung
des Nachtmahls, Cacao oder Kaffee mit ein wenig Brot und Speck, hat die
Spiritusflamme wol dreiviertel Stunden in Anspruch genommen; hierbei ver¬
breitet sich ein die Augen in hohem Maße angreifender Aether -- durch seine
tägliche Wiederkehr eine wahre Qual. -- Nachdem das Abendbrot eingenommen
--- Keiner gäbe es für alle Schätze der Welt -- tritt eine kurze Siesta ein,
die einzige behagliche Zeit des Tages. Man raucht; die Matrosen aus den
kleinen Pfeifen jenes furchtbare "Kamelhaare" genannte Kraut. Die Tages¬
ereignisse und die neuen Entdeckungen sowie mögliche Eventualitäten werden nun
erörtert, das Wugebuch wird geschlossen und den Dysenteriekranken Opium gereicht.
Aus den in einer verschließbaren Blechtrommel verwahrten Gummiflaschen
werden darauf regelmäßig zwei bis drei Löffel Rum oder Cognak vertheilt --
eine unvergleichliche Wonne für die Betheiligten. Auf allen Schlittenreisen
konnte man die Beobachtung machen, daß diese geringe Quantität geistiger
Getränke zufolge der sich steigernden Abnahme der Körperkraft und des zu¬
nehmenden Hungers sofort eine Art fröhlichen Wahnsinns erzeugt, dem Be¬
täubung folgt. Für einige Minuten flammt die Unterhaltung in ausgelassener
Heiterkeit auf; dann wird die Pfeife ausgeklopft, und nun jeder mit see¬
männischen Singsang in seinen Platz im Schlafsaal hineingedrängt und an
seinen Nachbar möglichst dicht angeschoben. Mehrtöniges Schnarchen folgt
bei den Glücklichen, peinliches Wachen bei den minder Begünstigten. Vom
Moment der Ankunft bis zu diesem Augenblick vergehen zwei bis drei Stunden.
Die Temperatur in dem leichten Zelt fällt dann wieder sehr bedeutend unter
Null. Umhüllt von einer thauender Decke auf einem Thierfell liegend, durch
welches die Bodenkälte von manchmal -- 20" dringt, in der Seitenlage von
den Nachbarn glatt gepreßt wie eine echte Havanna, regungsunfähig, halb
auf dem einschlafenden Arme, mit den Füßen ebenso hoch als mit dem aus
einem Steine ruhenden Kopfe, -- so liegt man da. -- Schlafe, lieber Leser!
Der Schlaf, zu welchem dir nur fünf bis sechs Stunden Zeit bleiben, soll
dich den empfindlichen Nahrungsmangel vergessen machen. -- Ach! du fühlst,
daß dein Schenkelknochen unmittelbar auf einem spitzen Stein ruht, den zu
beseitigen die Zelterbauer übersehen haben! Gedulde dich, man kann es
deinetwegen nicht wieder abbrechen. Du bemerkst, daß deine Nase einem


Grenzboten lit. 1874. 39

sie die Temperatur; mächtige Dampfwolken erfüllen das Zelt, sodaß man die
eigene Hand dicht vor den Augen nicht mehr sieht; eine brennende Kerze gleicht
dem Hof umringten Mond, ein leichter Sprühregen fällt von der gänzlich
durchnäßten Zeltwand herab, welcher nach beendigter Dampfentwicklung sofort
vereist. Die Feuchtigkeit der Kleider und Decken nimmt auf diese Weise täglich
zu; die Körperwärme ist dazu bestimmt, diese Frostsumme während der Nacht
etwas auszugleichen. — Die Befriedigung des Durstes, dieses großen Unge¬
machs arktischer Schlittenreisen, durch geschmolzenes Eis, und die Zubereitung
des Nachtmahls, Cacao oder Kaffee mit ein wenig Brot und Speck, hat die
Spiritusflamme wol dreiviertel Stunden in Anspruch genommen; hierbei ver¬
breitet sich ein die Augen in hohem Maße angreifender Aether — durch seine
tägliche Wiederkehr eine wahre Qual. — Nachdem das Abendbrot eingenommen
—- Keiner gäbe es für alle Schätze der Welt — tritt eine kurze Siesta ein,
die einzige behagliche Zeit des Tages. Man raucht; die Matrosen aus den
kleinen Pfeifen jenes furchtbare „Kamelhaare" genannte Kraut. Die Tages¬
ereignisse und die neuen Entdeckungen sowie mögliche Eventualitäten werden nun
erörtert, das Wugebuch wird geschlossen und den Dysenteriekranken Opium gereicht.
Aus den in einer verschließbaren Blechtrommel verwahrten Gummiflaschen
werden darauf regelmäßig zwei bis drei Löffel Rum oder Cognak vertheilt —
eine unvergleichliche Wonne für die Betheiligten. Auf allen Schlittenreisen
konnte man die Beobachtung machen, daß diese geringe Quantität geistiger
Getränke zufolge der sich steigernden Abnahme der Körperkraft und des zu¬
nehmenden Hungers sofort eine Art fröhlichen Wahnsinns erzeugt, dem Be¬
täubung folgt. Für einige Minuten flammt die Unterhaltung in ausgelassener
Heiterkeit auf; dann wird die Pfeife ausgeklopft, und nun jeder mit see¬
männischen Singsang in seinen Platz im Schlafsaal hineingedrängt und an
seinen Nachbar möglichst dicht angeschoben. Mehrtöniges Schnarchen folgt
bei den Glücklichen, peinliches Wachen bei den minder Begünstigten. Vom
Moment der Ankunft bis zu diesem Augenblick vergehen zwei bis drei Stunden.
Die Temperatur in dem leichten Zelt fällt dann wieder sehr bedeutend unter
Null. Umhüllt von einer thauender Decke auf einem Thierfell liegend, durch
welches die Bodenkälte von manchmal — 20" dringt, in der Seitenlage von
den Nachbarn glatt gepreßt wie eine echte Havanna, regungsunfähig, halb
auf dem einschlafenden Arme, mit den Füßen ebenso hoch als mit dem aus
einem Steine ruhenden Kopfe, — so liegt man da. — Schlafe, lieber Leser!
Der Schlaf, zu welchem dir nur fünf bis sechs Stunden Zeit bleiben, soll
dich den empfindlichen Nahrungsmangel vergessen machen. — Ach! du fühlst,
daß dein Schenkelknochen unmittelbar auf einem spitzen Stein ruht, den zu
beseitigen die Zelterbauer übersehen haben! Gedulde dich, man kann es
deinetwegen nicht wieder abbrechen. Du bemerkst, daß deine Nase einem


Grenzboten lit. 1874. 39
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[0313] sie die Temperatur; mächtige Dampfwolken erfüllen das Zelt, sodaß man die eigene Hand dicht vor den Augen nicht mehr sieht; eine brennende Kerze gleicht dem Hof umringten Mond, ein leichter Sprühregen fällt von der gänzlich durchnäßten Zeltwand herab, welcher nach beendigter Dampfentwicklung sofort vereist. Die Feuchtigkeit der Kleider und Decken nimmt auf diese Weise täglich zu; die Körperwärme ist dazu bestimmt, diese Frostsumme während der Nacht etwas auszugleichen. — Die Befriedigung des Durstes, dieses großen Unge¬ machs arktischer Schlittenreisen, durch geschmolzenes Eis, und die Zubereitung des Nachtmahls, Cacao oder Kaffee mit ein wenig Brot und Speck, hat die Spiritusflamme wol dreiviertel Stunden in Anspruch genommen; hierbei ver¬ breitet sich ein die Augen in hohem Maße angreifender Aether — durch seine tägliche Wiederkehr eine wahre Qual. — Nachdem das Abendbrot eingenommen —- Keiner gäbe es für alle Schätze der Welt — tritt eine kurze Siesta ein, die einzige behagliche Zeit des Tages. Man raucht; die Matrosen aus den kleinen Pfeifen jenes furchtbare „Kamelhaare" genannte Kraut. Die Tages¬ ereignisse und die neuen Entdeckungen sowie mögliche Eventualitäten werden nun erörtert, das Wugebuch wird geschlossen und den Dysenteriekranken Opium gereicht. Aus den in einer verschließbaren Blechtrommel verwahrten Gummiflaschen werden darauf regelmäßig zwei bis drei Löffel Rum oder Cognak vertheilt — eine unvergleichliche Wonne für die Betheiligten. Auf allen Schlittenreisen konnte man die Beobachtung machen, daß diese geringe Quantität geistiger Getränke zufolge der sich steigernden Abnahme der Körperkraft und des zu¬ nehmenden Hungers sofort eine Art fröhlichen Wahnsinns erzeugt, dem Be¬ täubung folgt. Für einige Minuten flammt die Unterhaltung in ausgelassener Heiterkeit auf; dann wird die Pfeife ausgeklopft, und nun jeder mit see¬ männischen Singsang in seinen Platz im Schlafsaal hineingedrängt und an seinen Nachbar möglichst dicht angeschoben. Mehrtöniges Schnarchen folgt bei den Glücklichen, peinliches Wachen bei den minder Begünstigten. Vom Moment der Ankunft bis zu diesem Augenblick vergehen zwei bis drei Stunden. Die Temperatur in dem leichten Zelt fällt dann wieder sehr bedeutend unter Null. Umhüllt von einer thauender Decke auf einem Thierfell liegend, durch welches die Bodenkälte von manchmal — 20" dringt, in der Seitenlage von den Nachbarn glatt gepreßt wie eine echte Havanna, regungsunfähig, halb auf dem einschlafenden Arme, mit den Füßen ebenso hoch als mit dem aus einem Steine ruhenden Kopfe, — so liegt man da. — Schlafe, lieber Leser! Der Schlaf, zu welchem dir nur fünf bis sechs Stunden Zeit bleiben, soll dich den empfindlichen Nahrungsmangel vergessen machen. — Ach! du fühlst, daß dein Schenkelknochen unmittelbar auf einem spitzen Stein ruht, den zu beseitigen die Zelterbauer übersehen haben! Gedulde dich, man kann es deinetwegen nicht wieder abbrechen. Du bemerkst, daß deine Nase einem Grenzboten lit. 1874. 39

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_359152/313>, abgerufen am 22.07.2024.