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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, I. Band.

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begierig sein zu sehen, in welchem Verhältnisse diese beiden Werke etwa zu
einander stehen. Dies Verhältniß ist nicht ganz einfach zu bestimmen.
Otte's Buch bildet zu dem von Lübke ein Seitenstück, und doch auch wiederum
kein Seitenstück. Beide führen uns in einem selbständigen, abgeschlossenen
Werke eine wichtige Periode der deutschen Kunstgeschichte vor, Otte allerdings
mit strenger Beschränkung auf die Architektur, während Lübke, namentlich in
dem allgemeinen Theile seiner Darstellung, auch auf die Malerei, die Bild¬
hauerei und das Kunstgewerbe reichlich Rücksicht nimmt. Aber welch ein
Unterschied schon, wenn wir weiterhin die Genesis beider Werke ins Auge
fassen! Von allen Perioden der deutschen Kunst ist neben der gothischen
gewiß die romanische die am meisten durchgearbeitete; zahlreiche Kräfte sind
seit langer Zeit beschäftigt gewesen, gerade die mittelalterliche Kunst nach
allen Seiten hin zu durchforschen, und so ist das wissenschaftliche Material
über jene Perioden zu einer Menge angewachsen, die kaum noch zu übersehen
ist und die nur bei hohem wissenschaftlichem Muthe durch jahrelange aus¬
schließliche Vertiefung in den Stoff noch bewältigt werden mag. Anders
verhält es sich mit den folgenden Perioden der deutschen Kunst; diese waren
bis in die jüngste Zeit -- und das ist nach dem, was soeben über die beiden
frühesten Perioden bemerkt ist, wunderbar genug -- um so schlechter bekannt,
je weiter sie zurücklagen. Während verhältnißmäßig reiches Material vorliegt
über die neudeutsche Kunst seit Carstens und sogar, worauf wir weiter unten
noch zurückkommen, neuerdings von zwei Seiten zu gleicher Zeit wieder ein¬
mal eine zusammenhängende Darstellung derselben unternommen worden ist,
hat das 18. Jahrhundert, die Kunst der Barock-, Rococo- und Zopfzeit,
nachdem sie früher geradezu als eine Periode des Verfalls und der Ausartung
mit verächtlichem Stillschweigen übergangen worden war, kaum seit einem
Jahrzehnt etwas mehr Beachtung und unbefangenere Würdigung gefunden,
und für die deutsche Renaissance vollends, die ja bis vor ganz kurzer Zeit
als unentdecktes Land in dem weiten orbis der Kunstgeschichte dastand, und
zwar nicht blos in Laienkreisen, sondern selbst unter den Fachleuten, hat
eigentlich erst Lübke's oben erwähntes Buch Interesse angefacht, allerdings,
wie wir mit Freuden hinzufügen, ein energisches und für die Kunstwissenschaft
voraussichtlich folgenreiches Interesse. In dieser ganzen Sachlage beruht ein
tiefer Unterschied zwischen Lübke's und Otte's Buch.. Lübke hat so gut wie
keine Vorarbeiten gehabt, auf die er sich hätte stützen können; was er ge¬
schaffen, das ist wesentlich ein bahnbrechendes, zielweisendes Werk; und ob¬
wohl er selbst bereits in diesem Werke ein beträchtliches Stück des Weges,
der nach jenem Ziele führt, aus eigner Kraft zurückgelegt hat, so hat er doch
gleichzeitig uns auch vor eine kunstwissenschaftliche Aufgabe gestellt, die
hoffentlich in nächster Zeit von recht vielen Seiten mit vereinten Kräften an-


begierig sein zu sehen, in welchem Verhältnisse diese beiden Werke etwa zu
einander stehen. Dies Verhältniß ist nicht ganz einfach zu bestimmen.
Otte's Buch bildet zu dem von Lübke ein Seitenstück, und doch auch wiederum
kein Seitenstück. Beide führen uns in einem selbständigen, abgeschlossenen
Werke eine wichtige Periode der deutschen Kunstgeschichte vor, Otte allerdings
mit strenger Beschränkung auf die Architektur, während Lübke, namentlich in
dem allgemeinen Theile seiner Darstellung, auch auf die Malerei, die Bild¬
hauerei und das Kunstgewerbe reichlich Rücksicht nimmt. Aber welch ein
Unterschied schon, wenn wir weiterhin die Genesis beider Werke ins Auge
fassen! Von allen Perioden der deutschen Kunst ist neben der gothischen
gewiß die romanische die am meisten durchgearbeitete; zahlreiche Kräfte sind
seit langer Zeit beschäftigt gewesen, gerade die mittelalterliche Kunst nach
allen Seiten hin zu durchforschen, und so ist das wissenschaftliche Material
über jene Perioden zu einer Menge angewachsen, die kaum noch zu übersehen
ist und die nur bei hohem wissenschaftlichem Muthe durch jahrelange aus¬
schließliche Vertiefung in den Stoff noch bewältigt werden mag. Anders
verhält es sich mit den folgenden Perioden der deutschen Kunst; diese waren
bis in die jüngste Zeit — und das ist nach dem, was soeben über die beiden
frühesten Perioden bemerkt ist, wunderbar genug — um so schlechter bekannt,
je weiter sie zurücklagen. Während verhältnißmäßig reiches Material vorliegt
über die neudeutsche Kunst seit Carstens und sogar, worauf wir weiter unten
noch zurückkommen, neuerdings von zwei Seiten zu gleicher Zeit wieder ein¬
mal eine zusammenhängende Darstellung derselben unternommen worden ist,
hat das 18. Jahrhundert, die Kunst der Barock-, Rococo- und Zopfzeit,
nachdem sie früher geradezu als eine Periode des Verfalls und der Ausartung
mit verächtlichem Stillschweigen übergangen worden war, kaum seit einem
Jahrzehnt etwas mehr Beachtung und unbefangenere Würdigung gefunden,
und für die deutsche Renaissance vollends, die ja bis vor ganz kurzer Zeit
als unentdecktes Land in dem weiten orbis der Kunstgeschichte dastand, und
zwar nicht blos in Laienkreisen, sondern selbst unter den Fachleuten, hat
eigentlich erst Lübke's oben erwähntes Buch Interesse angefacht, allerdings,
wie wir mit Freuden hinzufügen, ein energisches und für die Kunstwissenschaft
voraussichtlich folgenreiches Interesse. In dieser ganzen Sachlage beruht ein
tiefer Unterschied zwischen Lübke's und Otte's Buch.. Lübke hat so gut wie
keine Vorarbeiten gehabt, auf die er sich hätte stützen können; was er ge¬
schaffen, das ist wesentlich ein bahnbrechendes, zielweisendes Werk; und ob¬
wohl er selbst bereits in diesem Werke ein beträchtliches Stück des Weges,
der nach jenem Ziele führt, aus eigner Kraft zurückgelegt hat, so hat er doch
gleichzeitig uns auch vor eine kunstwissenschaftliche Aufgabe gestellt, die
hoffentlich in nächster Zeit von recht vielen Seiten mit vereinten Kräften an-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_359152/234>, abgerufen am 22.07.2024.