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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, I. Band.

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lung zurück. Der Versuch einer Verfassungsrevision nahm ein klägliches
Ende, worüber man sich nicht wundern darf: denn zu einer gründlichen Re¬
form, bedingt durch die Einführung des Einkammersystems, ist die Zeit noch
nicht gekommen. Mag auch unser Herrenhaus noch so lebensunfähig geworden
sein, so fehlt doch unserer friedlichen Zeit der Motor, um den Cadaver zur Seite
zu schaffen und so wird nichts übrig bleiben, als ihn an Ort und Stelle vermo¬
dern zu lassen, auf die Gefahr bin, daß unsere Abgeordnentekammer unter dem
Zersetzungsproeeß Schaden leidet. Von der ganzen Revision kam nichts zu
Stande als ein Gesetz, welches den Ständen endlich -- bezeichnend genug!
-- das Recht der Redefreiheit und der Gesetzesinitiative, .der Abgeordneten¬
kammer das Recht ihren Präsidenten ohne königliche Bestätigung selbst zu
erwählen einräumt, die Urlaubsberechtigung an Beamte zum Eintritt in die
Ständekammer abschafft, dagegen bei Beförderung von Abgeordneten im
Staats- oder Reichsdienst die Anordung einer Neuwahl vorschreibt. Somit
bleibt auch fernerhin die mittelalterliche Zusammensetzung unseres Abgeordneten¬
hauses aus Vertretern der Geistlichkeit, der Ritter, der "guten Städte" und
des übrigen Volks als schwäbische Eigenthümlichkeit erhalten. Damit aber
unsere Abgeordnetenkammer die endlich durch das Reich errungene Redefreiheit
nicht mißbrauche, hat sie auf das naive Verlangen unseres Herrenhauses in
dem neuen Verfasfungsgesetz die Verpflichtung übernehmen müssen, "wenn ein
Ständemitglied seine Stellung in der Kammer zu einer Beleidigung oder Ver-
läumdung der Regierung, der Stände oder einzelner Personen mißbrauche,
diese zu rügen."

Ob etwa unser Haus der Lords den Thatbestand dieser Vergehen als
oberster Richter vor seine Schranken ziehen wird? !

Die übrige Thätigkeit unseres Landtags war eine wesentlich finanzielle.
An die Berathung schloß sich die Erhöhung sämmtlicher Beamtengehalte um
: auch die Civilliste des Königs wurde mit Rücksicht auf die Unterhaltung
des Theaters in demselben Verhältnisse erhöht. Die Exigenzen für das Retab-
lissement des württembergischen Armeekorps, für Militärbauten und eine neue
Garnisonskirche wurden zum Aergerniß unserer Demokraten ohne Widerspruch
verwilligt. Vor allem aber wurde die Erbauung einer Reihe weiterer Staats¬
bahnen beschlossen. Wir haben seit Jahren auf die schweren Bedenken auf¬
merksam gemacht, welche ebensosehr mit Rücksicht auf die Corruption des ganzen
öffentlichen Lebens als vom finanziellen, volkswirtschaftlichen und commer-
ciellen Standpunkt der fortwährenden Ausdehnung des Staatseisenbahnbaues
entgegenstehen: wir haben insbesondere aus die Nothwendigkeit einer wenigstens
zeitweisen Pause hingewiesen, um die ganze Ertragsberechnung, welche bisher
auf einer, jeder Controlle entziehenden sich Gruppirung der Etats für die
vollendeten und die neuen Bahnen beruhte -- einer unbefangenen Kritik unter-


lung zurück. Der Versuch einer Verfassungsrevision nahm ein klägliches
Ende, worüber man sich nicht wundern darf: denn zu einer gründlichen Re¬
form, bedingt durch die Einführung des Einkammersystems, ist die Zeit noch
nicht gekommen. Mag auch unser Herrenhaus noch so lebensunfähig geworden
sein, so fehlt doch unserer friedlichen Zeit der Motor, um den Cadaver zur Seite
zu schaffen und so wird nichts übrig bleiben, als ihn an Ort und Stelle vermo¬
dern zu lassen, auf die Gefahr bin, daß unsere Abgeordnentekammer unter dem
Zersetzungsproeeß Schaden leidet. Von der ganzen Revision kam nichts zu
Stande als ein Gesetz, welches den Ständen endlich — bezeichnend genug!
— das Recht der Redefreiheit und der Gesetzesinitiative, .der Abgeordneten¬
kammer das Recht ihren Präsidenten ohne königliche Bestätigung selbst zu
erwählen einräumt, die Urlaubsberechtigung an Beamte zum Eintritt in die
Ständekammer abschafft, dagegen bei Beförderung von Abgeordneten im
Staats- oder Reichsdienst die Anordung einer Neuwahl vorschreibt. Somit
bleibt auch fernerhin die mittelalterliche Zusammensetzung unseres Abgeordneten¬
hauses aus Vertretern der Geistlichkeit, der Ritter, der „guten Städte" und
des übrigen Volks als schwäbische Eigenthümlichkeit erhalten. Damit aber
unsere Abgeordnetenkammer die endlich durch das Reich errungene Redefreiheit
nicht mißbrauche, hat sie auf das naive Verlangen unseres Herrenhauses in
dem neuen Verfasfungsgesetz die Verpflichtung übernehmen müssen, „wenn ein
Ständemitglied seine Stellung in der Kammer zu einer Beleidigung oder Ver-
läumdung der Regierung, der Stände oder einzelner Personen mißbrauche,
diese zu rügen."

Ob etwa unser Haus der Lords den Thatbestand dieser Vergehen als
oberster Richter vor seine Schranken ziehen wird? !

Die übrige Thätigkeit unseres Landtags war eine wesentlich finanzielle.
An die Berathung schloß sich die Erhöhung sämmtlicher Beamtengehalte um
: auch die Civilliste des Königs wurde mit Rücksicht auf die Unterhaltung
des Theaters in demselben Verhältnisse erhöht. Die Exigenzen für das Retab-
lissement des württembergischen Armeekorps, für Militärbauten und eine neue
Garnisonskirche wurden zum Aergerniß unserer Demokraten ohne Widerspruch
verwilligt. Vor allem aber wurde die Erbauung einer Reihe weiterer Staats¬
bahnen beschlossen. Wir haben seit Jahren auf die schweren Bedenken auf¬
merksam gemacht, welche ebensosehr mit Rücksicht auf die Corruption des ganzen
öffentlichen Lebens als vom finanziellen, volkswirtschaftlichen und commer-
ciellen Standpunkt der fortwährenden Ausdehnung des Staatseisenbahnbaues
entgegenstehen: wir haben insbesondere aus die Nothwendigkeit einer wenigstens
zeitweisen Pause hingewiesen, um die ganze Ertragsberechnung, welche bisher
auf einer, jeder Controlle entziehenden sich Gruppirung der Etats für die
vollendeten und die neuen Bahnen beruhte — einer unbefangenen Kritik unter-


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[0230] lung zurück. Der Versuch einer Verfassungsrevision nahm ein klägliches Ende, worüber man sich nicht wundern darf: denn zu einer gründlichen Re¬ form, bedingt durch die Einführung des Einkammersystems, ist die Zeit noch nicht gekommen. Mag auch unser Herrenhaus noch so lebensunfähig geworden sein, so fehlt doch unserer friedlichen Zeit der Motor, um den Cadaver zur Seite zu schaffen und so wird nichts übrig bleiben, als ihn an Ort und Stelle vermo¬ dern zu lassen, auf die Gefahr bin, daß unsere Abgeordnentekammer unter dem Zersetzungsproeeß Schaden leidet. Von der ganzen Revision kam nichts zu Stande als ein Gesetz, welches den Ständen endlich — bezeichnend genug! — das Recht der Redefreiheit und der Gesetzesinitiative, .der Abgeordneten¬ kammer das Recht ihren Präsidenten ohne königliche Bestätigung selbst zu erwählen einräumt, die Urlaubsberechtigung an Beamte zum Eintritt in die Ständekammer abschafft, dagegen bei Beförderung von Abgeordneten im Staats- oder Reichsdienst die Anordung einer Neuwahl vorschreibt. Somit bleibt auch fernerhin die mittelalterliche Zusammensetzung unseres Abgeordneten¬ hauses aus Vertretern der Geistlichkeit, der Ritter, der „guten Städte" und des übrigen Volks als schwäbische Eigenthümlichkeit erhalten. Damit aber unsere Abgeordnetenkammer die endlich durch das Reich errungene Redefreiheit nicht mißbrauche, hat sie auf das naive Verlangen unseres Herrenhauses in dem neuen Verfasfungsgesetz die Verpflichtung übernehmen müssen, „wenn ein Ständemitglied seine Stellung in der Kammer zu einer Beleidigung oder Ver- läumdung der Regierung, der Stände oder einzelner Personen mißbrauche, diese zu rügen." Ob etwa unser Haus der Lords den Thatbestand dieser Vergehen als oberster Richter vor seine Schranken ziehen wird? ! Die übrige Thätigkeit unseres Landtags war eine wesentlich finanzielle. An die Berathung schloß sich die Erhöhung sämmtlicher Beamtengehalte um : auch die Civilliste des Königs wurde mit Rücksicht auf die Unterhaltung des Theaters in demselben Verhältnisse erhöht. Die Exigenzen für das Retab- lissement des württembergischen Armeekorps, für Militärbauten und eine neue Garnisonskirche wurden zum Aergerniß unserer Demokraten ohne Widerspruch verwilligt. Vor allem aber wurde die Erbauung einer Reihe weiterer Staats¬ bahnen beschlossen. Wir haben seit Jahren auf die schweren Bedenken auf¬ merksam gemacht, welche ebensosehr mit Rücksicht auf die Corruption des ganzen öffentlichen Lebens als vom finanziellen, volkswirtschaftlichen und commer- ciellen Standpunkt der fortwährenden Ausdehnung des Staatseisenbahnbaues entgegenstehen: wir haben insbesondere aus die Nothwendigkeit einer wenigstens zeitweisen Pause hingewiesen, um die ganze Ertragsberechnung, welche bisher auf einer, jeder Controlle entziehenden sich Gruppirung der Etats für die vollendeten und die neuen Bahnen beruhte — einer unbefangenen Kritik unter-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_359152/230>, abgerufen am 22.07.2024.