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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, I. Band.

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Elsaß-Lothringen gegenwärtig ganz ähnliche Widersucher habe, wie vor 1866
Preußen allein in Süddeutschland hatte, ist an sich ja zutreffend, und auch
das ist richtig, daß französische Sympathieen schwerer zu überwinden sind als
österreichische; aber andererseits leuchtet auch ein, daß beides durch den bereits
erlangten Besitz des Landes nahezu aufgewogen wird. Die Lage der Dinge
in Elsaß-Lothringen ist daher ähnlich, wie sie in Süddeutschland gewesen
wäre, wenn Preußen 1866 oder noch früher nach einem glücklichen Feldzug
die süddeutschen Fürsten abgesetzt und ihre Länder sich ein¬
verleibt hätte. Es würde das einerseits zwar die preußenfeindlichen Ele¬
mente daselbst für den Anfang namhaft verstärkt, andererseits aber auch natur¬
gemäß einen unaufhaltsamen Verschmelzungsproceß herbeigeführt haben.
Darum sprechen auch die Franzosen und ihre Freunde in Elsaß-Lothringen
freilich in ganz anderem Sinn, als sie wollen, eine Wahrheit aus. wenn sie
so gerne die "annektirten" Hannoveraner :c. als ihre "Leidensgefährten" be¬
zeichnen. Die einmal vollbrachte Thatsache der Einverleibung eines durch
Natur und Sprache zum nationalen Staat gehörigen Stammes zieht trotz
allen Widerstrebens künstlich großgezogener antinationaler Sympathieen zuletzt
unwiderstehlich auch die Herzen nach sich, ohne daß ein Wunder nöthig wäre,
um den Saulus zum Paulus zu machen.

So sind auch die Elsaß-Lothringer gezwungen^ mit uns in Gemeinschaft
zu treten. Ihre Jsolirung wird von Jahr zu Jahr unhaltbarer und schwä¬
cher. Ihre Kinder werden in den Schulen deutsch erzogen, ihre Söhne tragen
des deutschen Kaisers Rock; das flache Land, die niederen Klassen in den
Städten, die noch nicht verwälscht sind, werden das Gefühl, daß die Deut¬
schen Fremde seien, mehr und mehr verlieren und die höheren Stände zuletzt
nur die Wahl haben, entweder in der sie umgebenden "germanischen" Fluth
unter zu gehen oder eine Art Jnsulanerleben zu führen, ein Leben der Frem¬
de in der eigenen Heimath, ihr Volk nicht mehr verstehend und von ihm
nicht mehr verstanden, ein Leben, das eben deshalb zu unausbleiblichen Ster¬
ben, ohne Hoffnung der Auferstehung, verurtheilt wäre! --

Das ist der Proceß, der sich, von den französisch redenden Theilen deS
Reichslands abgesehen, ohne Zweifel vollziehen wird. Freilich wird er länger
dauern, als er in Hannover :c. gedauert hat und in Süddeutschland im Fall
einer gewaltsamen Einverleibung gedauert hätte. Aber vollziehen wird er
sich, und je nachdem sich die Dinge in Frankreich gestalten, vielleicht sogar
rascher, als es jetzt den Anschein hat. Eine bonapartistische Restauration
z. B. würde uns hier um mindestens zehn Jahre vorwärts bringen.

Ja selbst das räumen wir offen ein, daß vielleicht dem 1866, das gleich¬
sam Elsaß-Lothringen im Jahr 1870 an sich erlebt hat, noch ein besonderes
1870 fehlt, um diesen Proceß zu beschleunigen. Wie Süddeutschland in der


Elsaß-Lothringen gegenwärtig ganz ähnliche Widersucher habe, wie vor 1866
Preußen allein in Süddeutschland hatte, ist an sich ja zutreffend, und auch
das ist richtig, daß französische Sympathieen schwerer zu überwinden sind als
österreichische; aber andererseits leuchtet auch ein, daß beides durch den bereits
erlangten Besitz des Landes nahezu aufgewogen wird. Die Lage der Dinge
in Elsaß-Lothringen ist daher ähnlich, wie sie in Süddeutschland gewesen
wäre, wenn Preußen 1866 oder noch früher nach einem glücklichen Feldzug
die süddeutschen Fürsten abgesetzt und ihre Länder sich ein¬
verleibt hätte. Es würde das einerseits zwar die preußenfeindlichen Ele¬
mente daselbst für den Anfang namhaft verstärkt, andererseits aber auch natur¬
gemäß einen unaufhaltsamen Verschmelzungsproceß herbeigeführt haben.
Darum sprechen auch die Franzosen und ihre Freunde in Elsaß-Lothringen
freilich in ganz anderem Sinn, als sie wollen, eine Wahrheit aus. wenn sie
so gerne die „annektirten" Hannoveraner :c. als ihre „Leidensgefährten" be¬
zeichnen. Die einmal vollbrachte Thatsache der Einverleibung eines durch
Natur und Sprache zum nationalen Staat gehörigen Stammes zieht trotz
allen Widerstrebens künstlich großgezogener antinationaler Sympathieen zuletzt
unwiderstehlich auch die Herzen nach sich, ohne daß ein Wunder nöthig wäre,
um den Saulus zum Paulus zu machen.

So sind auch die Elsaß-Lothringer gezwungen^ mit uns in Gemeinschaft
zu treten. Ihre Jsolirung wird von Jahr zu Jahr unhaltbarer und schwä¬
cher. Ihre Kinder werden in den Schulen deutsch erzogen, ihre Söhne tragen
des deutschen Kaisers Rock; das flache Land, die niederen Klassen in den
Städten, die noch nicht verwälscht sind, werden das Gefühl, daß die Deut¬
schen Fremde seien, mehr und mehr verlieren und die höheren Stände zuletzt
nur die Wahl haben, entweder in der sie umgebenden „germanischen" Fluth
unter zu gehen oder eine Art Jnsulanerleben zu führen, ein Leben der Frem¬
de in der eigenen Heimath, ihr Volk nicht mehr verstehend und von ihm
nicht mehr verstanden, ein Leben, das eben deshalb zu unausbleiblichen Ster¬
ben, ohne Hoffnung der Auferstehung, verurtheilt wäre! —

Das ist der Proceß, der sich, von den französisch redenden Theilen deS
Reichslands abgesehen, ohne Zweifel vollziehen wird. Freilich wird er länger
dauern, als er in Hannover :c. gedauert hat und in Süddeutschland im Fall
einer gewaltsamen Einverleibung gedauert hätte. Aber vollziehen wird er
sich, und je nachdem sich die Dinge in Frankreich gestalten, vielleicht sogar
rascher, als es jetzt den Anschein hat. Eine bonapartistische Restauration
z. B. würde uns hier um mindestens zehn Jahre vorwärts bringen.

Ja selbst das räumen wir offen ein, daß vielleicht dem 1866, das gleich¬
sam Elsaß-Lothringen im Jahr 1870 an sich erlebt hat, noch ein besonderes
1870 fehlt, um diesen Proceß zu beschleunigen. Wie Süddeutschland in der


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[0120] Elsaß-Lothringen gegenwärtig ganz ähnliche Widersucher habe, wie vor 1866 Preußen allein in Süddeutschland hatte, ist an sich ja zutreffend, und auch das ist richtig, daß französische Sympathieen schwerer zu überwinden sind als österreichische; aber andererseits leuchtet auch ein, daß beides durch den bereits erlangten Besitz des Landes nahezu aufgewogen wird. Die Lage der Dinge in Elsaß-Lothringen ist daher ähnlich, wie sie in Süddeutschland gewesen wäre, wenn Preußen 1866 oder noch früher nach einem glücklichen Feldzug die süddeutschen Fürsten abgesetzt und ihre Länder sich ein¬ verleibt hätte. Es würde das einerseits zwar die preußenfeindlichen Ele¬ mente daselbst für den Anfang namhaft verstärkt, andererseits aber auch natur¬ gemäß einen unaufhaltsamen Verschmelzungsproceß herbeigeführt haben. Darum sprechen auch die Franzosen und ihre Freunde in Elsaß-Lothringen freilich in ganz anderem Sinn, als sie wollen, eine Wahrheit aus. wenn sie so gerne die „annektirten" Hannoveraner :c. als ihre „Leidensgefährten" be¬ zeichnen. Die einmal vollbrachte Thatsache der Einverleibung eines durch Natur und Sprache zum nationalen Staat gehörigen Stammes zieht trotz allen Widerstrebens künstlich großgezogener antinationaler Sympathieen zuletzt unwiderstehlich auch die Herzen nach sich, ohne daß ein Wunder nöthig wäre, um den Saulus zum Paulus zu machen. So sind auch die Elsaß-Lothringer gezwungen^ mit uns in Gemeinschaft zu treten. Ihre Jsolirung wird von Jahr zu Jahr unhaltbarer und schwä¬ cher. Ihre Kinder werden in den Schulen deutsch erzogen, ihre Söhne tragen des deutschen Kaisers Rock; das flache Land, die niederen Klassen in den Städten, die noch nicht verwälscht sind, werden das Gefühl, daß die Deut¬ schen Fremde seien, mehr und mehr verlieren und die höheren Stände zuletzt nur die Wahl haben, entweder in der sie umgebenden „germanischen" Fluth unter zu gehen oder eine Art Jnsulanerleben zu führen, ein Leben der Frem¬ de in der eigenen Heimath, ihr Volk nicht mehr verstehend und von ihm nicht mehr verstanden, ein Leben, das eben deshalb zu unausbleiblichen Ster¬ ben, ohne Hoffnung der Auferstehung, verurtheilt wäre! — Das ist der Proceß, der sich, von den französisch redenden Theilen deS Reichslands abgesehen, ohne Zweifel vollziehen wird. Freilich wird er länger dauern, als er in Hannover :c. gedauert hat und in Süddeutschland im Fall einer gewaltsamen Einverleibung gedauert hätte. Aber vollziehen wird er sich, und je nachdem sich die Dinge in Frankreich gestalten, vielleicht sogar rascher, als es jetzt den Anschein hat. Eine bonapartistische Restauration z. B. würde uns hier um mindestens zehn Jahre vorwärts bringen. Ja selbst das räumen wir offen ein, daß vielleicht dem 1866, das gleich¬ sam Elsaß-Lothringen im Jahr 1870 an sich erlebt hat, noch ein besonderes 1870 fehlt, um diesen Proceß zu beschleunigen. Wie Süddeutschland in der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_359152/120>, abgerufen am 22.07.2024.