Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

die deutsche Frage lösen könne; aber ihr Gemüth war süddeutsch geblieben
und im Grunde dem eigenartig "preußischen Wesen" ebenso abgeneigt, als
von der österreichischen "Gemüthlichkeit" angezogen. Ebendeshalb traf sie auch
kein Vorwurf ihrer Gegner empfindlicher als der, daß es doch geradezu schänd¬
lich sei, die braven, liebenswürdigen Deutschösterreicher von der deutschen Ein¬
heit ausschließen und sie zu "Schmerzenskindern" machen zu wollen. Und
während dem gegenüber die "Bettelpreußen" -- das war der Ehrentitel der
süddeutschen Preußenfreunde -- aufs eifrigste betonten, daß man ja die Deutsch¬
österreicher ganz gern mit "ins Reich" hereinließe, wenn man sie nur nicht
in der Gesellschaft der Magyaren, Kroaten :c. sähe, umfaßte im Gegentheil
die große Masse des süddeutschen Volks das "Siebenzigmillionenreich" und be¬
sonders die zwanzig Millionen, die davon nicht deutsch redeten, mit schwär¬
merischer Inbrunst. Ich selbst erinnere mich, als halberwachsener Jüngling
im Jahr 1859, als das Corps Clam Gallas durch Baiern und Tirol nach
Italien fuhr, auf einer fränkischen Eisenbahnstation einen ungarischen Grena¬
dier mit hellen Thränen der Rührung als "Bruder meiniges" umarmt zu
haben I Elf Jahre später habe ich auf derselben Station vielen braven bran¬
denburgischen Jungen, die "nach Paris" fuhren, die Hand gedrückt -- "temxvi-A,
ilmtantur et nos mutainur in illis!" -- Aber wir sind noch nicht so weit,
wir weilen im Geiste noch in der Vergangenheit vor 1866.

Der österreichische Einfluß in Süddeutschland und namentlich in Baiern
war damals ungeheuer. Wäre Max II. in den Händen der Jesuiten ge¬
wesen, so würde Baiern geradezu eine österreichische Provinz geworden sein.
Das Alte "Lieber bairisch sterben, als österreichisch verderben" war längst zur
Mythe geworden. Man sagte dafür eher: "Lieber österreichisch sterben, als
preußisch verderben", und als man dann 1866 wirklich österreichisch nicht
zwar starb, aber verdarb, da ging durch tausend bairische Herzen ein tiefer
Schmerz, als hätte die Vorsehung einen Frevel begangen, und erst allmählich
brach sich die Erkenntniß Bahn, daß man von einer Art Fremdherrschaft, die
man unbewußt getragen, befreit worden sei. Dieser Proceß wurde durch die
Begeisterung des Jahres 1870 beschleunigt, und wenn er heute hier und dort
rückläufige Bewegungen zu machen scheint, so ist das lediglich dem Ultramon¬
tanismus zuzuschreiben, der das Siebenzigmillionenreich nicht vergessen kann,
in welchem ihm das Staatsruder zugefallen wäre. Gleichwohl wird Niemand
im Ernste behaupten, daß die Steine, welche die Wegelagerer der Kurie
und die Heckenreiter des Particularismus dem Reichswagen in den Weg
werfen, auch wirklich im Stande sein werden, denselben wesentlich aufzuhalten
oder gar umzuwerfen. Gerade ihr Geschrei, daß Baiern jetzt "preußische
Provinz" geworden sei und daß der bairische Landtag fortan nichts besseres
thun könne, alZ die "preußische Provincialordnung" zu studiren -- wie Ehren-


die deutsche Frage lösen könne; aber ihr Gemüth war süddeutsch geblieben
und im Grunde dem eigenartig „preußischen Wesen" ebenso abgeneigt, als
von der österreichischen „Gemüthlichkeit" angezogen. Ebendeshalb traf sie auch
kein Vorwurf ihrer Gegner empfindlicher als der, daß es doch geradezu schänd¬
lich sei, die braven, liebenswürdigen Deutschösterreicher von der deutschen Ein¬
heit ausschließen und sie zu „Schmerzenskindern" machen zu wollen. Und
während dem gegenüber die „Bettelpreußen" — das war der Ehrentitel der
süddeutschen Preußenfreunde — aufs eifrigste betonten, daß man ja die Deutsch¬
österreicher ganz gern mit „ins Reich" hereinließe, wenn man sie nur nicht
in der Gesellschaft der Magyaren, Kroaten :c. sähe, umfaßte im Gegentheil
die große Masse des süddeutschen Volks das „Siebenzigmillionenreich" und be¬
sonders die zwanzig Millionen, die davon nicht deutsch redeten, mit schwär¬
merischer Inbrunst. Ich selbst erinnere mich, als halberwachsener Jüngling
im Jahr 1859, als das Corps Clam Gallas durch Baiern und Tirol nach
Italien fuhr, auf einer fränkischen Eisenbahnstation einen ungarischen Grena¬
dier mit hellen Thränen der Rührung als „Bruder meiniges" umarmt zu
haben I Elf Jahre später habe ich auf derselben Station vielen braven bran¬
denburgischen Jungen, die „nach Paris" fuhren, die Hand gedrückt — „temxvi-A,
ilmtantur et nos mutainur in illis!" — Aber wir sind noch nicht so weit,
wir weilen im Geiste noch in der Vergangenheit vor 1866.

Der österreichische Einfluß in Süddeutschland und namentlich in Baiern
war damals ungeheuer. Wäre Max II. in den Händen der Jesuiten ge¬
wesen, so würde Baiern geradezu eine österreichische Provinz geworden sein.
Das Alte „Lieber bairisch sterben, als österreichisch verderben" war längst zur
Mythe geworden. Man sagte dafür eher: „Lieber österreichisch sterben, als
preußisch verderben", und als man dann 1866 wirklich österreichisch nicht
zwar starb, aber verdarb, da ging durch tausend bairische Herzen ein tiefer
Schmerz, als hätte die Vorsehung einen Frevel begangen, und erst allmählich
brach sich die Erkenntniß Bahn, daß man von einer Art Fremdherrschaft, die
man unbewußt getragen, befreit worden sei. Dieser Proceß wurde durch die
Begeisterung des Jahres 1870 beschleunigt, und wenn er heute hier und dort
rückläufige Bewegungen zu machen scheint, so ist das lediglich dem Ultramon¬
tanismus zuzuschreiben, der das Siebenzigmillionenreich nicht vergessen kann,
in welchem ihm das Staatsruder zugefallen wäre. Gleichwohl wird Niemand
im Ernste behaupten, daß die Steine, welche die Wegelagerer der Kurie
und die Heckenreiter des Particularismus dem Reichswagen in den Weg
werfen, auch wirklich im Stande sein werden, denselben wesentlich aufzuhalten
oder gar umzuwerfen. Gerade ihr Geschrei, daß Baiern jetzt „preußische
Provinz" geworden sei und daß der bairische Landtag fortan nichts besseres
thun könne, alZ die „preußische Provincialordnung" zu studiren — wie Ehren-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0116" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/131810"/>
          <p xml:id="ID_407" prev="#ID_406"> die deutsche Frage lösen könne; aber ihr Gemüth war süddeutsch geblieben<lb/>
und im Grunde dem eigenartig &#x201E;preußischen Wesen" ebenso abgeneigt, als<lb/>
von der österreichischen &#x201E;Gemüthlichkeit" angezogen. Ebendeshalb traf sie auch<lb/>
kein Vorwurf ihrer Gegner empfindlicher als der, daß es doch geradezu schänd¬<lb/>
lich sei, die braven, liebenswürdigen Deutschösterreicher von der deutschen Ein¬<lb/>
heit ausschließen und sie zu &#x201E;Schmerzenskindern" machen zu wollen. Und<lb/>
während dem gegenüber die &#x201E;Bettelpreußen" &#x2014; das war der Ehrentitel der<lb/>
süddeutschen Preußenfreunde &#x2014; aufs eifrigste betonten, daß man ja die Deutsch¬<lb/>
österreicher ganz gern mit &#x201E;ins Reich" hereinließe, wenn man sie nur nicht<lb/>
in der Gesellschaft der Magyaren, Kroaten :c. sähe, umfaßte im Gegentheil<lb/>
die große Masse des süddeutschen Volks das &#x201E;Siebenzigmillionenreich" und be¬<lb/>
sonders die zwanzig Millionen, die davon nicht deutsch redeten, mit schwär¬<lb/>
merischer Inbrunst. Ich selbst erinnere mich, als halberwachsener Jüngling<lb/>
im Jahr 1859, als das Corps Clam Gallas durch Baiern und Tirol nach<lb/>
Italien fuhr, auf einer fränkischen Eisenbahnstation einen ungarischen Grena¬<lb/>
dier mit hellen Thränen der Rührung als &#x201E;Bruder meiniges" umarmt zu<lb/>
haben I Elf Jahre später habe ich auf derselben Station vielen braven bran¬<lb/>
denburgischen Jungen, die &#x201E;nach Paris" fuhren, die Hand gedrückt &#x2014; &#x201E;temxvi-A,<lb/>
ilmtantur et nos mutainur in illis!" &#x2014; Aber wir sind noch nicht so weit,<lb/>
wir weilen im Geiste noch in der Vergangenheit vor 1866.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_408" next="#ID_409"> Der österreichische Einfluß in Süddeutschland und namentlich in Baiern<lb/>
war damals ungeheuer. Wäre Max II. in den Händen der Jesuiten ge¬<lb/>
wesen, so würde Baiern geradezu eine österreichische Provinz geworden sein.<lb/>
Das Alte &#x201E;Lieber bairisch sterben, als österreichisch verderben" war längst zur<lb/>
Mythe geworden. Man sagte dafür eher: &#x201E;Lieber österreichisch sterben, als<lb/>
preußisch verderben", und als man dann 1866 wirklich österreichisch nicht<lb/>
zwar starb, aber verdarb, da ging durch tausend bairische Herzen ein tiefer<lb/>
Schmerz, als hätte die Vorsehung einen Frevel begangen, und erst allmählich<lb/>
brach sich die Erkenntniß Bahn, daß man von einer Art Fremdherrschaft, die<lb/>
man unbewußt getragen, befreit worden sei. Dieser Proceß wurde durch die<lb/>
Begeisterung des Jahres 1870 beschleunigt, und wenn er heute hier und dort<lb/>
rückläufige Bewegungen zu machen scheint, so ist das lediglich dem Ultramon¬<lb/>
tanismus zuzuschreiben, der das Siebenzigmillionenreich nicht vergessen kann,<lb/>
in welchem ihm das Staatsruder zugefallen wäre. Gleichwohl wird Niemand<lb/>
im Ernste behaupten, daß die Steine, welche die Wegelagerer der Kurie<lb/>
und die Heckenreiter des Particularismus dem Reichswagen in den Weg<lb/>
werfen, auch wirklich im Stande sein werden, denselben wesentlich aufzuhalten<lb/>
oder gar umzuwerfen. Gerade ihr Geschrei, daß Baiern jetzt &#x201E;preußische<lb/>
Provinz" geworden sei und daß der bairische Landtag fortan nichts besseres<lb/>
thun könne, alZ die &#x201E;preußische Provincialordnung" zu studiren &#x2014; wie Ehren-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0116] die deutsche Frage lösen könne; aber ihr Gemüth war süddeutsch geblieben und im Grunde dem eigenartig „preußischen Wesen" ebenso abgeneigt, als von der österreichischen „Gemüthlichkeit" angezogen. Ebendeshalb traf sie auch kein Vorwurf ihrer Gegner empfindlicher als der, daß es doch geradezu schänd¬ lich sei, die braven, liebenswürdigen Deutschösterreicher von der deutschen Ein¬ heit ausschließen und sie zu „Schmerzenskindern" machen zu wollen. Und während dem gegenüber die „Bettelpreußen" — das war der Ehrentitel der süddeutschen Preußenfreunde — aufs eifrigste betonten, daß man ja die Deutsch¬ österreicher ganz gern mit „ins Reich" hereinließe, wenn man sie nur nicht in der Gesellschaft der Magyaren, Kroaten :c. sähe, umfaßte im Gegentheil die große Masse des süddeutschen Volks das „Siebenzigmillionenreich" und be¬ sonders die zwanzig Millionen, die davon nicht deutsch redeten, mit schwär¬ merischer Inbrunst. Ich selbst erinnere mich, als halberwachsener Jüngling im Jahr 1859, als das Corps Clam Gallas durch Baiern und Tirol nach Italien fuhr, auf einer fränkischen Eisenbahnstation einen ungarischen Grena¬ dier mit hellen Thränen der Rührung als „Bruder meiniges" umarmt zu haben I Elf Jahre später habe ich auf derselben Station vielen braven bran¬ denburgischen Jungen, die „nach Paris" fuhren, die Hand gedrückt — „temxvi-A, ilmtantur et nos mutainur in illis!" — Aber wir sind noch nicht so weit, wir weilen im Geiste noch in der Vergangenheit vor 1866. Der österreichische Einfluß in Süddeutschland und namentlich in Baiern war damals ungeheuer. Wäre Max II. in den Händen der Jesuiten ge¬ wesen, so würde Baiern geradezu eine österreichische Provinz geworden sein. Das Alte „Lieber bairisch sterben, als österreichisch verderben" war längst zur Mythe geworden. Man sagte dafür eher: „Lieber österreichisch sterben, als preußisch verderben", und als man dann 1866 wirklich österreichisch nicht zwar starb, aber verdarb, da ging durch tausend bairische Herzen ein tiefer Schmerz, als hätte die Vorsehung einen Frevel begangen, und erst allmählich brach sich die Erkenntniß Bahn, daß man von einer Art Fremdherrschaft, die man unbewußt getragen, befreit worden sei. Dieser Proceß wurde durch die Begeisterung des Jahres 1870 beschleunigt, und wenn er heute hier und dort rückläufige Bewegungen zu machen scheint, so ist das lediglich dem Ultramon¬ tanismus zuzuschreiben, der das Siebenzigmillionenreich nicht vergessen kann, in welchem ihm das Staatsruder zugefallen wäre. Gleichwohl wird Niemand im Ernste behaupten, daß die Steine, welche die Wegelagerer der Kurie und die Heckenreiter des Particularismus dem Reichswagen in den Weg werfen, auch wirklich im Stande sein werden, denselben wesentlich aufzuhalten oder gar umzuwerfen. Gerade ihr Geschrei, daß Baiern jetzt „preußische Provinz" geworden sei und daß der bairische Landtag fortan nichts besseres thun könne, alZ die „preußische Provincialordnung" zu studiren — wie Ehren-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_359152
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_359152/116
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_359152/116>, abgerufen am 22.07.2024.