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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, I. Semester. I. Band.

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Erzgebirges noch einmal mit dem letzten Roth. Auch die Schneelinien und
Flächen, welche die höchsten Gipfel bezeichneten, gewannen einen Augenblick
einen wärmeren Hauch. Selbst in das kalte bläuliche Weiß dieser Schneefelder
stieg ein schüchternes Glühen. Näher hallte der gedämpfte Wirbel der Schützen.
Dann starb auch dieser dahin, und statt seiner murmelten nun in nächster
Nähe die katholischen Priester ihre monotonen lateinischen Gebete. Kein
deutsches Wort, keine Rede am Grabe, wie sie seit Luther's Tagen an den
Gräbern der "Ketzer" gesprochen wird, gab von dem Erdenwallen des Todten
den Umstehenden Kunde, spendete Trost den Trauernden. Dasselbe lateinische
Wort senkt Jung und Alt, Mann und Weib zur ewigen Ruhe, der wir Alle
zustreben. Dasselbe Wort das heutige Geschlecht wie ganze Geschlechterreihen
vor uns. Dasselbe Wort hier und an allen Orten, wo die katholische Kirche
ihre Kinder begräbt. Ist nicht auch das Bild und die Arbeit des Todes
überall gleich, Sommers und Winters, bei Alt und Jung? Mit Nichten,
antwortet unser protestantischer Individualismus. Folgt nicht überall auf
das letzte Roth der kalte düstere Schatten, der jetzt uns die Nacht verkündet?
Aber jeder Tag. jedes Leben ist anders geartet. I^rie eleison! sangen die
Umstehenden. Wie viele unter ihnen verstanden, was sie sangen, und was
vorher gebetet worden? Wie viele unter ihnen wissen, daß vor dem großen
dreißigjährigen Krieg auch hier deutsch gebetet, nur Luther's Lehre geglaubt
ward, fast soweit der böhmische Königsboten reichte? -- ki^rio eleison!
wiederholten die Sänger.




pariser Briefe.

"I^e .jour ac 1'an" ist hierzulande eine Zauberformel, die für kleine und
große Kinder von mächtigster Wirkung ist, noch weit mehr als unser deutscher
Weihnachtsabend, mit welchem der französische Neujahrstag ja die Sitte des
Geschenkemachens gemeinsam hat. Allein seit dem Kriege hat die traditionelle
Fröhlichkeit niemals recht wiederkehren wollen; Paris besonders ist diesmal
noch mehr, als im vorigen Jahre, hinter der Vergangenheit zurückgeblieben.
Wie könnte es auch jemals unter der Republik jene glänzenden Tage wieder-
sehen, da die Vertreter der Mächte in den Tuilerien erschienen, um jene
kaiserlichen Worte zu vernehmen, denen ganz Europa mit verhaltenem Athem
entgegenlauschte? Am wenigsten sicherlich unter einer Republik, die Paris
decapitalisirt und ihre großen Staatsactionen in die versteinerte Königsstadt


Erzgebirges noch einmal mit dem letzten Roth. Auch die Schneelinien und
Flächen, welche die höchsten Gipfel bezeichneten, gewannen einen Augenblick
einen wärmeren Hauch. Selbst in das kalte bläuliche Weiß dieser Schneefelder
stieg ein schüchternes Glühen. Näher hallte der gedämpfte Wirbel der Schützen.
Dann starb auch dieser dahin, und statt seiner murmelten nun in nächster
Nähe die katholischen Priester ihre monotonen lateinischen Gebete. Kein
deutsches Wort, keine Rede am Grabe, wie sie seit Luther's Tagen an den
Gräbern der „Ketzer" gesprochen wird, gab von dem Erdenwallen des Todten
den Umstehenden Kunde, spendete Trost den Trauernden. Dasselbe lateinische
Wort senkt Jung und Alt, Mann und Weib zur ewigen Ruhe, der wir Alle
zustreben. Dasselbe Wort das heutige Geschlecht wie ganze Geschlechterreihen
vor uns. Dasselbe Wort hier und an allen Orten, wo die katholische Kirche
ihre Kinder begräbt. Ist nicht auch das Bild und die Arbeit des Todes
überall gleich, Sommers und Winters, bei Alt und Jung? Mit Nichten,
antwortet unser protestantischer Individualismus. Folgt nicht überall auf
das letzte Roth der kalte düstere Schatten, der jetzt uns die Nacht verkündet?
Aber jeder Tag. jedes Leben ist anders geartet. I^rie eleison! sangen die
Umstehenden. Wie viele unter ihnen verstanden, was sie sangen, und was
vorher gebetet worden? Wie viele unter ihnen wissen, daß vor dem großen
dreißigjährigen Krieg auch hier deutsch gebetet, nur Luther's Lehre geglaubt
ward, fast soweit der böhmische Königsboten reichte? — ki^rio eleison!
wiederholten die Sänger.




pariser Briefe.

„I^e .jour ac 1'an" ist hierzulande eine Zauberformel, die für kleine und
große Kinder von mächtigster Wirkung ist, noch weit mehr als unser deutscher
Weihnachtsabend, mit welchem der französische Neujahrstag ja die Sitte des
Geschenkemachens gemeinsam hat. Allein seit dem Kriege hat die traditionelle
Fröhlichkeit niemals recht wiederkehren wollen; Paris besonders ist diesmal
noch mehr, als im vorigen Jahre, hinter der Vergangenheit zurückgeblieben.
Wie könnte es auch jemals unter der Republik jene glänzenden Tage wieder-
sehen, da die Vertreter der Mächte in den Tuilerien erschienen, um jene
kaiserlichen Worte zu vernehmen, denen ganz Europa mit verhaltenem Athem
entgegenlauschte? Am wenigsten sicherlich unter einer Republik, die Paris
decapitalisirt und ihre großen Staatsactionen in die versteinerte Königsstadt


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[0073] Erzgebirges noch einmal mit dem letzten Roth. Auch die Schneelinien und Flächen, welche die höchsten Gipfel bezeichneten, gewannen einen Augenblick einen wärmeren Hauch. Selbst in das kalte bläuliche Weiß dieser Schneefelder stieg ein schüchternes Glühen. Näher hallte der gedämpfte Wirbel der Schützen. Dann starb auch dieser dahin, und statt seiner murmelten nun in nächster Nähe die katholischen Priester ihre monotonen lateinischen Gebete. Kein deutsches Wort, keine Rede am Grabe, wie sie seit Luther's Tagen an den Gräbern der „Ketzer" gesprochen wird, gab von dem Erdenwallen des Todten den Umstehenden Kunde, spendete Trost den Trauernden. Dasselbe lateinische Wort senkt Jung und Alt, Mann und Weib zur ewigen Ruhe, der wir Alle zustreben. Dasselbe Wort das heutige Geschlecht wie ganze Geschlechterreihen vor uns. Dasselbe Wort hier und an allen Orten, wo die katholische Kirche ihre Kinder begräbt. Ist nicht auch das Bild und die Arbeit des Todes überall gleich, Sommers und Winters, bei Alt und Jung? Mit Nichten, antwortet unser protestantischer Individualismus. Folgt nicht überall auf das letzte Roth der kalte düstere Schatten, der jetzt uns die Nacht verkündet? Aber jeder Tag. jedes Leben ist anders geartet. I^rie eleison! sangen die Umstehenden. Wie viele unter ihnen verstanden, was sie sangen, und was vorher gebetet worden? Wie viele unter ihnen wissen, daß vor dem großen dreißigjährigen Krieg auch hier deutsch gebetet, nur Luther's Lehre geglaubt ward, fast soweit der böhmische Königsboten reichte? — ki^rio eleison! wiederholten die Sänger. pariser Briefe. „I^e .jour ac 1'an" ist hierzulande eine Zauberformel, die für kleine und große Kinder von mächtigster Wirkung ist, noch weit mehr als unser deutscher Weihnachtsabend, mit welchem der französische Neujahrstag ja die Sitte des Geschenkemachens gemeinsam hat. Allein seit dem Kriege hat die traditionelle Fröhlichkeit niemals recht wiederkehren wollen; Paris besonders ist diesmal noch mehr, als im vorigen Jahre, hinter der Vergangenheit zurückgeblieben. Wie könnte es auch jemals unter der Republik jene glänzenden Tage wieder- sehen, da die Vertreter der Mächte in den Tuilerien erschienen, um jene kaiserlichen Worte zu vernehmen, denen ganz Europa mit verhaltenem Athem entgegenlauschte? Am wenigsten sicherlich unter einer Republik, die Paris decapitalisirt und ihre großen Staatsactionen in die versteinerte Königsstadt

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_130643/73>, abgerufen am 26.12.2024.