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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, I. Semester. I. Band.

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am Ufer der Tegel von eleganten lebhaft plaudernden Kurgästen wimmelt,
am heutigen Tage! Allesammt waren sie verschlossen; höchstens in den Parterre-
Fenstern standen einige unentwickelte Hyacinthen, dahinter beim späten Kaffee¬
tisch einige verduzte Menschengesichter, die ihre Muthmaßungen darüber
austauschten, was wohl ein Fremder hier um diese Jahreszeit zu suchen habe.
Der "römische" Feldherr ragte einsam, ohne Armee, in die Morgenluft; der
"Strausz" war verblüht; der "König von Württemberg" hielt sich bis oben
hinauf zugeknöpft; der "Pelikan" hatte keines seiner Kinder an seinem opfer¬
willigen Busen versammelt; der "Erzherzog Karl von Oesterreich" hielt sich,
ganz gegen die historische Tradition, äußerst verschlossen. In der großen
Musikhalle neben der Lali" as Zg.xe, am Ende der Alten Wiese, zu Anfang
der Puppischen Allee, wo im Sommer Tausende beim Kaffee den Concerten
lauschen, und auch heute, wie aus Hohn, die Nummern der einzelnen Sperr¬
sitzreihen in gespenstigem Kremserweiß an die Rinde der Bäume gemalt
waren, lagen Breter bis zum Dach der Musikhalle geschichtet. Ringsum
in den Pavillons, in Wald und Flur: Einöde, Tod. Und um den guten
Karlsbadern die Schauer des winterlichen Daseins noch etwas zu steigern,
spielte man im Theater des Abends den "Mord an der rothen Tanne".
Ich hatte wenig Lust, mir diesen Mord mitanzusehen.

In dem ersten Bierlokal der Stadt fand sich eine einzige Zeitung vor,
das "Karlsbader Wochenblatt" Nummer 51. Es ist, wie zahlreiche später
nachgeschlagene Nummern zeigten, ein sehr achtbares, wackeres Provin-
zialblatt. Und wenn ringsum den ganzen Tag kein tschechisches Wort ver¬
nommen wurde, so ist das gewiß nicht am wenigsten das Verdienst der
tapferen kleinen Lokalpresse der deutschen Bevölkerung Böhmens, von der
hier ein so ehrenwerther Stimmführer in meinen Händen war. Aber zur Weih¬
nachtszeit freilich ist auch bei manchem großen deutschen Blatte "draußen
im Reich" nicht allzuviel von Politik zu spüren; geschweige denn bei den
kleinen Wochenblättern in Böhmen. Gern will ich daher glauben, daß das
"Karlsbader Wochenblatt", wie mir zu meiner näheren Orientirung später
der Eigenthümer und stille Redacteur des Blattes versicherte, einen "politischen
Charakter" trage. In der vorliegenden Nummer 51 war indessen die
Politik unzweifelhaft "in Verstoß gerathen", wie man in Oesterreich zu sagen
pflegt. Der Leitartikel enthielt allgemeine Betrachtungen über die Vorzüge
des Weihnachtsfestes und den Segen der menschlichen Barmherzigkeit im
besondern, wirkte aber im übrigen recht wohlthuend durch seine echt frei¬
sinnige Menschlichkeit. Dann kam etwas sehr weniges über die allgemeine
Weltlage, dann etwas lokale Polemik aus der Umgegend, und dann ein
bei andringenden Stoffmangel sehr zeitgemäßer und nachahmenswerther Spalten-


Äre"zi,'"wi l, 1874. 9

am Ufer der Tegel von eleganten lebhaft plaudernden Kurgästen wimmelt,
am heutigen Tage! Allesammt waren sie verschlossen; höchstens in den Parterre-
Fenstern standen einige unentwickelte Hyacinthen, dahinter beim späten Kaffee¬
tisch einige verduzte Menschengesichter, die ihre Muthmaßungen darüber
austauschten, was wohl ein Fremder hier um diese Jahreszeit zu suchen habe.
Der „römische" Feldherr ragte einsam, ohne Armee, in die Morgenluft; der
„Strausz" war verblüht; der „König von Württemberg" hielt sich bis oben
hinauf zugeknöpft; der „Pelikan" hatte keines seiner Kinder an seinem opfer¬
willigen Busen versammelt; der „Erzherzog Karl von Oesterreich" hielt sich,
ganz gegen die historische Tradition, äußerst verschlossen. In der großen
Musikhalle neben der Lali« as Zg.xe, am Ende der Alten Wiese, zu Anfang
der Puppischen Allee, wo im Sommer Tausende beim Kaffee den Concerten
lauschen, und auch heute, wie aus Hohn, die Nummern der einzelnen Sperr¬
sitzreihen in gespenstigem Kremserweiß an die Rinde der Bäume gemalt
waren, lagen Breter bis zum Dach der Musikhalle geschichtet. Ringsum
in den Pavillons, in Wald und Flur: Einöde, Tod. Und um den guten
Karlsbadern die Schauer des winterlichen Daseins noch etwas zu steigern,
spielte man im Theater des Abends den „Mord an der rothen Tanne".
Ich hatte wenig Lust, mir diesen Mord mitanzusehen.

In dem ersten Bierlokal der Stadt fand sich eine einzige Zeitung vor,
das „Karlsbader Wochenblatt" Nummer 51. Es ist, wie zahlreiche später
nachgeschlagene Nummern zeigten, ein sehr achtbares, wackeres Provin-
zialblatt. Und wenn ringsum den ganzen Tag kein tschechisches Wort ver¬
nommen wurde, so ist das gewiß nicht am wenigsten das Verdienst der
tapferen kleinen Lokalpresse der deutschen Bevölkerung Böhmens, von der
hier ein so ehrenwerther Stimmführer in meinen Händen war. Aber zur Weih¬
nachtszeit freilich ist auch bei manchem großen deutschen Blatte „draußen
im Reich" nicht allzuviel von Politik zu spüren; geschweige denn bei den
kleinen Wochenblättern in Böhmen. Gern will ich daher glauben, daß das
„Karlsbader Wochenblatt", wie mir zu meiner näheren Orientirung später
der Eigenthümer und stille Redacteur des Blattes versicherte, einen „politischen
Charakter" trage. In der vorliegenden Nummer 51 war indessen die
Politik unzweifelhaft „in Verstoß gerathen", wie man in Oesterreich zu sagen
pflegt. Der Leitartikel enthielt allgemeine Betrachtungen über die Vorzüge
des Weihnachtsfestes und den Segen der menschlichen Barmherzigkeit im
besondern, wirkte aber im übrigen recht wohlthuend durch seine echt frei¬
sinnige Menschlichkeit. Dann kam etwas sehr weniges über die allgemeine
Weltlage, dann etwas lokale Polemik aus der Umgegend, und dann ein
bei andringenden Stoffmangel sehr zeitgemäßer und nachahmenswerther Spalten-


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[0071] am Ufer der Tegel von eleganten lebhaft plaudernden Kurgästen wimmelt, am heutigen Tage! Allesammt waren sie verschlossen; höchstens in den Parterre- Fenstern standen einige unentwickelte Hyacinthen, dahinter beim späten Kaffee¬ tisch einige verduzte Menschengesichter, die ihre Muthmaßungen darüber austauschten, was wohl ein Fremder hier um diese Jahreszeit zu suchen habe. Der „römische" Feldherr ragte einsam, ohne Armee, in die Morgenluft; der „Strausz" war verblüht; der „König von Württemberg" hielt sich bis oben hinauf zugeknöpft; der „Pelikan" hatte keines seiner Kinder an seinem opfer¬ willigen Busen versammelt; der „Erzherzog Karl von Oesterreich" hielt sich, ganz gegen die historische Tradition, äußerst verschlossen. In der großen Musikhalle neben der Lali« as Zg.xe, am Ende der Alten Wiese, zu Anfang der Puppischen Allee, wo im Sommer Tausende beim Kaffee den Concerten lauschen, und auch heute, wie aus Hohn, die Nummern der einzelnen Sperr¬ sitzreihen in gespenstigem Kremserweiß an die Rinde der Bäume gemalt waren, lagen Breter bis zum Dach der Musikhalle geschichtet. Ringsum in den Pavillons, in Wald und Flur: Einöde, Tod. Und um den guten Karlsbadern die Schauer des winterlichen Daseins noch etwas zu steigern, spielte man im Theater des Abends den „Mord an der rothen Tanne". Ich hatte wenig Lust, mir diesen Mord mitanzusehen. In dem ersten Bierlokal der Stadt fand sich eine einzige Zeitung vor, das „Karlsbader Wochenblatt" Nummer 51. Es ist, wie zahlreiche später nachgeschlagene Nummern zeigten, ein sehr achtbares, wackeres Provin- zialblatt. Und wenn ringsum den ganzen Tag kein tschechisches Wort ver¬ nommen wurde, so ist das gewiß nicht am wenigsten das Verdienst der tapferen kleinen Lokalpresse der deutschen Bevölkerung Böhmens, von der hier ein so ehrenwerther Stimmführer in meinen Händen war. Aber zur Weih¬ nachtszeit freilich ist auch bei manchem großen deutschen Blatte „draußen im Reich" nicht allzuviel von Politik zu spüren; geschweige denn bei den kleinen Wochenblättern in Böhmen. Gern will ich daher glauben, daß das „Karlsbader Wochenblatt", wie mir zu meiner näheren Orientirung später der Eigenthümer und stille Redacteur des Blattes versicherte, einen „politischen Charakter" trage. In der vorliegenden Nummer 51 war indessen die Politik unzweifelhaft „in Verstoß gerathen", wie man in Oesterreich zu sagen pflegt. Der Leitartikel enthielt allgemeine Betrachtungen über die Vorzüge des Weihnachtsfestes und den Segen der menschlichen Barmherzigkeit im besondern, wirkte aber im übrigen recht wohlthuend durch seine echt frei¬ sinnige Menschlichkeit. Dann kam etwas sehr weniges über die allgemeine Weltlage, dann etwas lokale Polemik aus der Umgegend, und dann ein bei andringenden Stoffmangel sehr zeitgemäßer und nachahmenswerther Spalten- Äre»zi,'»wi l, 1874. 9

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_130643/71>, abgerufen am 26.12.2024.