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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, I. Semester. I. Band.

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dernden Betrachtungen über die Geheimnisse einer Austerschale und
die Excursion in das Fischeingeweide,

Auf jeder Seite wird der Leser irgend ein interessantes Factum oder eine
Reflexion finden, die ihn zum weiterem Nachdenken anregt, falls er überhaupt
ein Freund dieses letzteren ist.

Wer sich mehr für landschaftliche Schilderungen als für zoologische und
botanische Erörterungen interessier, findet in den "Wandertagen" gleichfalls
seine Rechnung. Ratzel schildert seinen im Jahre 1872 unternommenen Aus¬
flug nach den ligarischen Inseln mit den prächtigsten Farben. Das Referat
über eine Vesuvbesteigung wird diesem und jenem Reiselustigen sicher auch
recht willkommen sein. Alles, was Ratzel über Sicilien, Neapel und die süd¬
licheren Regionen Italiens sagt, trägt durchweg den Stempel eigner, freudiger
und lebensfrischer Anschauung. Wer sollte auch unter einem solchen Himmel
philiströsen Ansichten und Gefühlen das Wort oder gar die Herrschaft über
sich gönnen? Man braucht ja nur den Blick in jden wolkenlosen, tiefblauen
Himmel zu versenken, um seine Augen in einem unendlichen Meere von Herr¬
lichkeit und Pvacht zu baden. Und läßt man seinen Blick über die saftigen
indischen Feigen, über die Citronenbäume und die dunkelgrünen Steineichen
schweifen, so gewahrt man noch nebenbei eine Mannigfaltigkeit der Vegetation,
die genugsam Zeugniß ablegt von der Lebens- und Wachsthumsfülle, die
dieser ewig strahlende Himmel aus dem trockenen Boden hervorzaubert.

Man muß diese Pracht sehen, um sie für möglich zu halten. Ganz be¬
sonders evident wird die Fruchtbarkeit des Südens an der Schnelligkeit, mit
der sich die nackte Lava mit einer Pflanzendecke überzieht. Ratzel widmet
diesem Vorgange einen besondern Artikel. Wie wüste und öde würde z. B.
die Umgebung von Catania aussehen, wenn die erstarrten Lavaströme, die
sich auf Meilenweite hin erstrecken, ganz und gar der Vegetation entbehrten!
Eine solche Gegend müßte einen schrecklichen Anblick der Verwüstung darbieten.
Aber die Natur, die so furchtbar verheeren kann, vermag auch wieder so
mütterlich zu sorgen. Kaum ist der Lavastrom erstarrt und erkaltet, so be¬
deckt sich seine Oberfläche mit einer weißlichen Flechte (ster-zvesulon vgsuvia-
imw) und mit dieser spärlichen Vegetation beginnt die Lockerung und Ver¬
witterung der glasharten Substanz. Es dauert nicht lange, so siedeln sich
Lebermoose, Farrnkräuter und Bärlapppflanzen auf der Flechtendecke an und
leisten der Zersetzung des Gesteins immer mehr Vorschub. Ein normaler
Lavastrom braucht nach Ratzel ungefähr 20 Jahre, um diese Phasen der
beginnenden Vegetation durchzumachen. Wenn er aber die Lebermoos- und
Farrnbesiedelungsperiode hinter sich hat, ist er auch geschickt, als Träger von
Blüthenpflanzen zu dienen. Dann geht die Bedeckung mit den verschiedensten


dernden Betrachtungen über die Geheimnisse einer Austerschale und
die Excursion in das Fischeingeweide,

Auf jeder Seite wird der Leser irgend ein interessantes Factum oder eine
Reflexion finden, die ihn zum weiterem Nachdenken anregt, falls er überhaupt
ein Freund dieses letzteren ist.

Wer sich mehr für landschaftliche Schilderungen als für zoologische und
botanische Erörterungen interessier, findet in den „Wandertagen" gleichfalls
seine Rechnung. Ratzel schildert seinen im Jahre 1872 unternommenen Aus¬
flug nach den ligarischen Inseln mit den prächtigsten Farben. Das Referat
über eine Vesuvbesteigung wird diesem und jenem Reiselustigen sicher auch
recht willkommen sein. Alles, was Ratzel über Sicilien, Neapel und die süd¬
licheren Regionen Italiens sagt, trägt durchweg den Stempel eigner, freudiger
und lebensfrischer Anschauung. Wer sollte auch unter einem solchen Himmel
philiströsen Ansichten und Gefühlen das Wort oder gar die Herrschaft über
sich gönnen? Man braucht ja nur den Blick in jden wolkenlosen, tiefblauen
Himmel zu versenken, um seine Augen in einem unendlichen Meere von Herr¬
lichkeit und Pvacht zu baden. Und läßt man seinen Blick über die saftigen
indischen Feigen, über die Citronenbäume und die dunkelgrünen Steineichen
schweifen, so gewahrt man noch nebenbei eine Mannigfaltigkeit der Vegetation,
die genugsam Zeugniß ablegt von der Lebens- und Wachsthumsfülle, die
dieser ewig strahlende Himmel aus dem trockenen Boden hervorzaubert.

Man muß diese Pracht sehen, um sie für möglich zu halten. Ganz be¬
sonders evident wird die Fruchtbarkeit des Südens an der Schnelligkeit, mit
der sich die nackte Lava mit einer Pflanzendecke überzieht. Ratzel widmet
diesem Vorgange einen besondern Artikel. Wie wüste und öde würde z. B.
die Umgebung von Catania aussehen, wenn die erstarrten Lavaströme, die
sich auf Meilenweite hin erstrecken, ganz und gar der Vegetation entbehrten!
Eine solche Gegend müßte einen schrecklichen Anblick der Verwüstung darbieten.
Aber die Natur, die so furchtbar verheeren kann, vermag auch wieder so
mütterlich zu sorgen. Kaum ist der Lavastrom erstarrt und erkaltet, so be¬
deckt sich seine Oberfläche mit einer weißlichen Flechte (ster-zvesulon vgsuvia-
imw) und mit dieser spärlichen Vegetation beginnt die Lockerung und Ver¬
witterung der glasharten Substanz. Es dauert nicht lange, so siedeln sich
Lebermoose, Farrnkräuter und Bärlapppflanzen auf der Flechtendecke an und
leisten der Zersetzung des Gesteins immer mehr Vorschub. Ein normaler
Lavastrom braucht nach Ratzel ungefähr 20 Jahre, um diese Phasen der
beginnenden Vegetation durchzumachen. Wenn er aber die Lebermoos- und
Farrnbesiedelungsperiode hinter sich hat, ist er auch geschickt, als Träger von
Blüthenpflanzen zu dienen. Dann geht die Bedeckung mit den verschiedensten


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[0484] dernden Betrachtungen über die Geheimnisse einer Austerschale und die Excursion in das Fischeingeweide, Auf jeder Seite wird der Leser irgend ein interessantes Factum oder eine Reflexion finden, die ihn zum weiterem Nachdenken anregt, falls er überhaupt ein Freund dieses letzteren ist. Wer sich mehr für landschaftliche Schilderungen als für zoologische und botanische Erörterungen interessier, findet in den „Wandertagen" gleichfalls seine Rechnung. Ratzel schildert seinen im Jahre 1872 unternommenen Aus¬ flug nach den ligarischen Inseln mit den prächtigsten Farben. Das Referat über eine Vesuvbesteigung wird diesem und jenem Reiselustigen sicher auch recht willkommen sein. Alles, was Ratzel über Sicilien, Neapel und die süd¬ licheren Regionen Italiens sagt, trägt durchweg den Stempel eigner, freudiger und lebensfrischer Anschauung. Wer sollte auch unter einem solchen Himmel philiströsen Ansichten und Gefühlen das Wort oder gar die Herrschaft über sich gönnen? Man braucht ja nur den Blick in jden wolkenlosen, tiefblauen Himmel zu versenken, um seine Augen in einem unendlichen Meere von Herr¬ lichkeit und Pvacht zu baden. Und läßt man seinen Blick über die saftigen indischen Feigen, über die Citronenbäume und die dunkelgrünen Steineichen schweifen, so gewahrt man noch nebenbei eine Mannigfaltigkeit der Vegetation, die genugsam Zeugniß ablegt von der Lebens- und Wachsthumsfülle, die dieser ewig strahlende Himmel aus dem trockenen Boden hervorzaubert. Man muß diese Pracht sehen, um sie für möglich zu halten. Ganz be¬ sonders evident wird die Fruchtbarkeit des Südens an der Schnelligkeit, mit der sich die nackte Lava mit einer Pflanzendecke überzieht. Ratzel widmet diesem Vorgange einen besondern Artikel. Wie wüste und öde würde z. B. die Umgebung von Catania aussehen, wenn die erstarrten Lavaströme, die sich auf Meilenweite hin erstrecken, ganz und gar der Vegetation entbehrten! Eine solche Gegend müßte einen schrecklichen Anblick der Verwüstung darbieten. Aber die Natur, die so furchtbar verheeren kann, vermag auch wieder so mütterlich zu sorgen. Kaum ist der Lavastrom erstarrt und erkaltet, so be¬ deckt sich seine Oberfläche mit einer weißlichen Flechte (ster-zvesulon vgsuvia- imw) und mit dieser spärlichen Vegetation beginnt die Lockerung und Ver¬ witterung der glasharten Substanz. Es dauert nicht lange, so siedeln sich Lebermoose, Farrnkräuter und Bärlapppflanzen auf der Flechtendecke an und leisten der Zersetzung des Gesteins immer mehr Vorschub. Ein normaler Lavastrom braucht nach Ratzel ungefähr 20 Jahre, um diese Phasen der beginnenden Vegetation durchzumachen. Wenn er aber die Lebermoos- und Farrnbesiedelungsperiode hinter sich hat, ist er auch geschickt, als Träger von Blüthenpflanzen zu dienen. Dann geht die Bedeckung mit den verschiedensten

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_130643/484>, abgerufen am 22.07.2024.