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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, I. Semester. I. Band.

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ersten Uebergangswesen beschaffen waren, die sich zuerst auf das Trockene
wagten. Das zu untersuchen, bleibt der Forschung vorbehalten.

Ratzel ist ein Freund, ein enthusiastischer Bewunderer, ein förmlicher An¬
beter des Meeres. Er kann nicht oft genug erwähnen (und er hat Recht),
wie wichtig es sei, die Natur als ein großes belebtes Ganze aufzufassen, in
dem sich Alles wechselseitig bedinge. Man dürfe keine Scheidewände zwischen
Meer und Land und zwischen den verschiedenen Geschöpfen sich gezogen denken,
sondern müsse sich zu der Annahme eines fortwährend sich manifestirenden
Zusammenhangs alles Geschaffenen bequemen, wenn man die Natur richtig
und wissenschaftlich auffassen wolle. Dem Philister, der ein Bedenken trägt,
mit solchen Augen die Natur zu betrachten, ruft Ratzel zu: Geh' ans
Meer! Blicke hinaus soweit deine Sehkraft reicht und präge dir dieses erhabene
Bild ein. Was du siehst, ist keine bloße Wassermasse, sondern das Lebens¬
element einer ganzen Thierwelt. studire diese Thierwelt und du wirst nicht
aufhören können zu staunen. Die alten Kategorien und Abtheilungen werden
wankend werden und du wirst nicht umhin können, die Annahme einer auf¬
steigenden Entwicklung der Thierwelt wahrscheinlich zu finden I --

Beinahe ohne daß wir gewahr werden, führt uns Ratzel bis an die
höchsten Probleme der Naturwissenschaft heran. Wir dürfen uns nur nicht
durch einen schwer wissenschaftlich klingenden Thiernamen abschrecken lassen.
Seite 16 spricht der Autor von den Rhizopoden und ihrem Protoplasma.
Das klingt für das große Lesepublikum nicht gerade einladend aber man
mache nur den Anfang mit der Lektüre. Wir erfahren sofort, was für Thiere
die Rhizopoden sind. Seite 22 und 23 finden wir ihre Beschreibung. Es sind
mikroskopische Thierchen, deren Schalen durchaus an die Gehäuse unserer
Süßwasserschnecken erinnern; gleich diesen liegt ihrem Aufbau die Spirale zu
Grunde. Bald läuft diese Spirale in einer einzigen Ebene, bald erhebt sie
sich zu einer flachen Kreiselform und öfters windet sie sich auch thurmförmig
wie eine Wendeltreppe auf. Man findet zahllose solcher Gehäuse in jeder
Handvoll Meeressand. Die Rhizopoden sind also Seethiere. An ihren Schalen
fällt sofort auf, daß sie porös sind. Von zierlichen, ganz fest umränderten
Poren ist die Schale überall durchbohrt und die Poren stehen so dicht neben
einander wie die Löcher in einem Siebe. Die Gehäuse sind übrigens keines¬
wegs einfach, sondern haben im Innern Scheidewände, die wiederum porös
sind. Das Material, aus dem die Gehäuse ausgebaut sind, ist kohlensaurer
Kalk. -- Bisher haben wir bloß von der Schale des Thiers gesprochen --
aber wie steht es denn mit dem Thiere selbst? Welche Gestalt hat es denn,
näher zugesehen? Eigentlich gar keine, denn das ganze Thier ist nur ein be¬
weglicher Schleim, ein Eiweißstoff, der aber vollkommen lebendig und fort¬
pflanzungsfähig ist. Von dem kunstvollem Gehäuse sollte man eigentlich auf


ersten Uebergangswesen beschaffen waren, die sich zuerst auf das Trockene
wagten. Das zu untersuchen, bleibt der Forschung vorbehalten.

Ratzel ist ein Freund, ein enthusiastischer Bewunderer, ein förmlicher An¬
beter des Meeres. Er kann nicht oft genug erwähnen (und er hat Recht),
wie wichtig es sei, die Natur als ein großes belebtes Ganze aufzufassen, in
dem sich Alles wechselseitig bedinge. Man dürfe keine Scheidewände zwischen
Meer und Land und zwischen den verschiedenen Geschöpfen sich gezogen denken,
sondern müsse sich zu der Annahme eines fortwährend sich manifestirenden
Zusammenhangs alles Geschaffenen bequemen, wenn man die Natur richtig
und wissenschaftlich auffassen wolle. Dem Philister, der ein Bedenken trägt,
mit solchen Augen die Natur zu betrachten, ruft Ratzel zu: Geh' ans
Meer! Blicke hinaus soweit deine Sehkraft reicht und präge dir dieses erhabene
Bild ein. Was du siehst, ist keine bloße Wassermasse, sondern das Lebens¬
element einer ganzen Thierwelt. studire diese Thierwelt und du wirst nicht
aufhören können zu staunen. Die alten Kategorien und Abtheilungen werden
wankend werden und du wirst nicht umhin können, die Annahme einer auf¬
steigenden Entwicklung der Thierwelt wahrscheinlich zu finden I —

Beinahe ohne daß wir gewahr werden, führt uns Ratzel bis an die
höchsten Probleme der Naturwissenschaft heran. Wir dürfen uns nur nicht
durch einen schwer wissenschaftlich klingenden Thiernamen abschrecken lassen.
Seite 16 spricht der Autor von den Rhizopoden und ihrem Protoplasma.
Das klingt für das große Lesepublikum nicht gerade einladend aber man
mache nur den Anfang mit der Lektüre. Wir erfahren sofort, was für Thiere
die Rhizopoden sind. Seite 22 und 23 finden wir ihre Beschreibung. Es sind
mikroskopische Thierchen, deren Schalen durchaus an die Gehäuse unserer
Süßwasserschnecken erinnern; gleich diesen liegt ihrem Aufbau die Spirale zu
Grunde. Bald läuft diese Spirale in einer einzigen Ebene, bald erhebt sie
sich zu einer flachen Kreiselform und öfters windet sie sich auch thurmförmig
wie eine Wendeltreppe auf. Man findet zahllose solcher Gehäuse in jeder
Handvoll Meeressand. Die Rhizopoden sind also Seethiere. An ihren Schalen
fällt sofort auf, daß sie porös sind. Von zierlichen, ganz fest umränderten
Poren ist die Schale überall durchbohrt und die Poren stehen so dicht neben
einander wie die Löcher in einem Siebe. Die Gehäuse sind übrigens keines¬
wegs einfach, sondern haben im Innern Scheidewände, die wiederum porös
sind. Das Material, aus dem die Gehäuse ausgebaut sind, ist kohlensaurer
Kalk. — Bisher haben wir bloß von der Schale des Thiers gesprochen —
aber wie steht es denn mit dem Thiere selbst? Welche Gestalt hat es denn,
näher zugesehen? Eigentlich gar keine, denn das ganze Thier ist nur ein be¬
weglicher Schleim, ein Eiweißstoff, der aber vollkommen lebendig und fort¬
pflanzungsfähig ist. Von dem kunstvollem Gehäuse sollte man eigentlich auf


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[0482] ersten Uebergangswesen beschaffen waren, die sich zuerst auf das Trockene wagten. Das zu untersuchen, bleibt der Forschung vorbehalten. Ratzel ist ein Freund, ein enthusiastischer Bewunderer, ein förmlicher An¬ beter des Meeres. Er kann nicht oft genug erwähnen (und er hat Recht), wie wichtig es sei, die Natur als ein großes belebtes Ganze aufzufassen, in dem sich Alles wechselseitig bedinge. Man dürfe keine Scheidewände zwischen Meer und Land und zwischen den verschiedenen Geschöpfen sich gezogen denken, sondern müsse sich zu der Annahme eines fortwährend sich manifestirenden Zusammenhangs alles Geschaffenen bequemen, wenn man die Natur richtig und wissenschaftlich auffassen wolle. Dem Philister, der ein Bedenken trägt, mit solchen Augen die Natur zu betrachten, ruft Ratzel zu: Geh' ans Meer! Blicke hinaus soweit deine Sehkraft reicht und präge dir dieses erhabene Bild ein. Was du siehst, ist keine bloße Wassermasse, sondern das Lebens¬ element einer ganzen Thierwelt. studire diese Thierwelt und du wirst nicht aufhören können zu staunen. Die alten Kategorien und Abtheilungen werden wankend werden und du wirst nicht umhin können, die Annahme einer auf¬ steigenden Entwicklung der Thierwelt wahrscheinlich zu finden I — Beinahe ohne daß wir gewahr werden, führt uns Ratzel bis an die höchsten Probleme der Naturwissenschaft heran. Wir dürfen uns nur nicht durch einen schwer wissenschaftlich klingenden Thiernamen abschrecken lassen. Seite 16 spricht der Autor von den Rhizopoden und ihrem Protoplasma. Das klingt für das große Lesepublikum nicht gerade einladend aber man mache nur den Anfang mit der Lektüre. Wir erfahren sofort, was für Thiere die Rhizopoden sind. Seite 22 und 23 finden wir ihre Beschreibung. Es sind mikroskopische Thierchen, deren Schalen durchaus an die Gehäuse unserer Süßwasserschnecken erinnern; gleich diesen liegt ihrem Aufbau die Spirale zu Grunde. Bald läuft diese Spirale in einer einzigen Ebene, bald erhebt sie sich zu einer flachen Kreiselform und öfters windet sie sich auch thurmförmig wie eine Wendeltreppe auf. Man findet zahllose solcher Gehäuse in jeder Handvoll Meeressand. Die Rhizopoden sind also Seethiere. An ihren Schalen fällt sofort auf, daß sie porös sind. Von zierlichen, ganz fest umränderten Poren ist die Schale überall durchbohrt und die Poren stehen so dicht neben einander wie die Löcher in einem Siebe. Die Gehäuse sind übrigens keines¬ wegs einfach, sondern haben im Innern Scheidewände, die wiederum porös sind. Das Material, aus dem die Gehäuse ausgebaut sind, ist kohlensaurer Kalk. — Bisher haben wir bloß von der Schale des Thiers gesprochen — aber wie steht es denn mit dem Thiere selbst? Welche Gestalt hat es denn, näher zugesehen? Eigentlich gar keine, denn das ganze Thier ist nur ein be¬ weglicher Schleim, ein Eiweißstoff, der aber vollkommen lebendig und fort¬ pflanzungsfähig ist. Von dem kunstvollem Gehäuse sollte man eigentlich auf

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_130643/482>, abgerufen am 22.07.2024.