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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, I. Semester. I. Band.

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Friedrich Uatzel's Wandertage eines Naturforschers.

Ohne Zweifel labonren auch die sogenannten Gebildeten noch immer an
einer großen Unbekanntschaft mit naturwissenschaftlichen Dingen. Es ist
gradezu bedauerlich, wenn man hie und da sieht, wie Leute, die sich mit
Politik und Volkswissenschaft, mit Literatur und Kunst aufs beste befreundet
haben, ganz und gar Fremdlinge sind auf den Gebieten der Zoologie, der
Entwickelungsgeschichte und der Biologie (Lebenslehre) überhaupt. Und doch
ist gerade keine andere Wissenschaft geeigneter, den Grund zu einer gesunden
und tüchtigen Denkweise zu legen, wie die Naturwissenschaft. Durch sie werden
wir erst bekannt mit den Grundsätzen alles Lebens und Webens, denen sich jedes
irdische Geschöpf, mag es hoch oder niedrig organisirt sein, unterwerfen muß
vom ersten Athemzuge an, den es thut. Glücklicherweise hält es nun der und
jener Forscher nicht unter seiner Würde, auch dem großen Publikum das
Thor der Wissenschaft zu offnen. Es ist freilich nicht leicht, die Eintretenden
in aller Kürze mit den Hauptsachen bekannt zu machen. Aber das Amt dieser
Führerschaft ist sehr verdienstlich -- denn wer es übernimmt, erfüllt geradezu
eine culturgeschichtliche Mission. Das große Publikum kann und darf nicht
mehr unberührt bleiben von den wissenschaftlichen Anschauungen und Denkweisen,
die sich in den letzten Decennien Bahn gebrochen haben.

Ein besserer und liebenswürdigerer Führer^ zu dem eben erwähnten
Zwecke als Ratzel's Buch, dürfte kaum zu finden sein. Wandertage ist es
betitelt. Und wirklich machen diese anmuthigen Schilderungen ganz den Ein¬
druck, als ob sie niedergeschrieben wären gleich auf den Wanderungen selbst.
Wahrscheinlich ist dies auch geschehen. Sie tragen durchaus die Frische und
und Unmittelbarkeit des unlängst Durchlebten und das verleiht ihnen einen
großen Reiz. Wer über die Natur schreibt, soll auch frisch und natürlich
schreiben, und das hat Ratzel gethan.

Vorzüglich sind seine Schilderungen des Meeres. Es ist, als ob man es
vor sich sähe in seiner Himmelsklarheit, als ob man am Gestade wandelte
und es rauschen hörte. Wie wahr und wissenschaftlich begründet ist es, wenn
Ratzel nicht müde wird, gegen die Auffassung des Meeres als einer blos auf-
und abwogenden, rastlos sich bewegenden Wassermasse zu Protestiren. Das ist
eine abstrakte, geistlose und naturwidrige Auffassung. Das Meer mit seinen
Wellen und Wogen muß vielmehr als die eigentliche Natur, als der eigentliche
Mutterschoß des Lebens betrachtet werden. Lange bevor Continente und
Inseln aus den Fluthen sich erhoben hatten, hegte das Meer eine Thier- und
Pflanzenwelt in seinen Tiefen. Aus dem Meere stammen jedenfalls die Thiere
und Pflanzen des Festlandes her, wenn uns auch nicht bekannt ist, wie die



") Leipzig, F. A. Brockhaus 1873,
Friedrich Uatzel's Wandertage eines Naturforschers.

Ohne Zweifel labonren auch die sogenannten Gebildeten noch immer an
einer großen Unbekanntschaft mit naturwissenschaftlichen Dingen. Es ist
gradezu bedauerlich, wenn man hie und da sieht, wie Leute, die sich mit
Politik und Volkswissenschaft, mit Literatur und Kunst aufs beste befreundet
haben, ganz und gar Fremdlinge sind auf den Gebieten der Zoologie, der
Entwickelungsgeschichte und der Biologie (Lebenslehre) überhaupt. Und doch
ist gerade keine andere Wissenschaft geeigneter, den Grund zu einer gesunden
und tüchtigen Denkweise zu legen, wie die Naturwissenschaft. Durch sie werden
wir erst bekannt mit den Grundsätzen alles Lebens und Webens, denen sich jedes
irdische Geschöpf, mag es hoch oder niedrig organisirt sein, unterwerfen muß
vom ersten Athemzuge an, den es thut. Glücklicherweise hält es nun der und
jener Forscher nicht unter seiner Würde, auch dem großen Publikum das
Thor der Wissenschaft zu offnen. Es ist freilich nicht leicht, die Eintretenden
in aller Kürze mit den Hauptsachen bekannt zu machen. Aber das Amt dieser
Führerschaft ist sehr verdienstlich — denn wer es übernimmt, erfüllt geradezu
eine culturgeschichtliche Mission. Das große Publikum kann und darf nicht
mehr unberührt bleiben von den wissenschaftlichen Anschauungen und Denkweisen,
die sich in den letzten Decennien Bahn gebrochen haben.

Ein besserer und liebenswürdigerer Führer^ zu dem eben erwähnten
Zwecke als Ratzel's Buch, dürfte kaum zu finden sein. Wandertage ist es
betitelt. Und wirklich machen diese anmuthigen Schilderungen ganz den Ein¬
druck, als ob sie niedergeschrieben wären gleich auf den Wanderungen selbst.
Wahrscheinlich ist dies auch geschehen. Sie tragen durchaus die Frische und
und Unmittelbarkeit des unlängst Durchlebten und das verleiht ihnen einen
großen Reiz. Wer über die Natur schreibt, soll auch frisch und natürlich
schreiben, und das hat Ratzel gethan.

Vorzüglich sind seine Schilderungen des Meeres. Es ist, als ob man es
vor sich sähe in seiner Himmelsklarheit, als ob man am Gestade wandelte
und es rauschen hörte. Wie wahr und wissenschaftlich begründet ist es, wenn
Ratzel nicht müde wird, gegen die Auffassung des Meeres als einer blos auf-
und abwogenden, rastlos sich bewegenden Wassermasse zu Protestiren. Das ist
eine abstrakte, geistlose und naturwidrige Auffassung. Das Meer mit seinen
Wellen und Wogen muß vielmehr als die eigentliche Natur, als der eigentliche
Mutterschoß des Lebens betrachtet werden. Lange bevor Continente und
Inseln aus den Fluthen sich erhoben hatten, hegte das Meer eine Thier- und
Pflanzenwelt in seinen Tiefen. Aus dem Meere stammen jedenfalls die Thiere
und Pflanzen des Festlandes her, wenn uns auch nicht bekannt ist, wie die



") Leipzig, F. A. Brockhaus 1873,
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[0481] Friedrich Uatzel's Wandertage eines Naturforschers. Ohne Zweifel labonren auch die sogenannten Gebildeten noch immer an einer großen Unbekanntschaft mit naturwissenschaftlichen Dingen. Es ist gradezu bedauerlich, wenn man hie und da sieht, wie Leute, die sich mit Politik und Volkswissenschaft, mit Literatur und Kunst aufs beste befreundet haben, ganz und gar Fremdlinge sind auf den Gebieten der Zoologie, der Entwickelungsgeschichte und der Biologie (Lebenslehre) überhaupt. Und doch ist gerade keine andere Wissenschaft geeigneter, den Grund zu einer gesunden und tüchtigen Denkweise zu legen, wie die Naturwissenschaft. Durch sie werden wir erst bekannt mit den Grundsätzen alles Lebens und Webens, denen sich jedes irdische Geschöpf, mag es hoch oder niedrig organisirt sein, unterwerfen muß vom ersten Athemzuge an, den es thut. Glücklicherweise hält es nun der und jener Forscher nicht unter seiner Würde, auch dem großen Publikum das Thor der Wissenschaft zu offnen. Es ist freilich nicht leicht, die Eintretenden in aller Kürze mit den Hauptsachen bekannt zu machen. Aber das Amt dieser Führerschaft ist sehr verdienstlich — denn wer es übernimmt, erfüllt geradezu eine culturgeschichtliche Mission. Das große Publikum kann und darf nicht mehr unberührt bleiben von den wissenschaftlichen Anschauungen und Denkweisen, die sich in den letzten Decennien Bahn gebrochen haben. Ein besserer und liebenswürdigerer Führer^ zu dem eben erwähnten Zwecke als Ratzel's Buch, dürfte kaum zu finden sein. Wandertage ist es betitelt. Und wirklich machen diese anmuthigen Schilderungen ganz den Ein¬ druck, als ob sie niedergeschrieben wären gleich auf den Wanderungen selbst. Wahrscheinlich ist dies auch geschehen. Sie tragen durchaus die Frische und und Unmittelbarkeit des unlängst Durchlebten und das verleiht ihnen einen großen Reiz. Wer über die Natur schreibt, soll auch frisch und natürlich schreiben, und das hat Ratzel gethan. Vorzüglich sind seine Schilderungen des Meeres. Es ist, als ob man es vor sich sähe in seiner Himmelsklarheit, als ob man am Gestade wandelte und es rauschen hörte. Wie wahr und wissenschaftlich begründet ist es, wenn Ratzel nicht müde wird, gegen die Auffassung des Meeres als einer blos auf- und abwogenden, rastlos sich bewegenden Wassermasse zu Protestiren. Das ist eine abstrakte, geistlose und naturwidrige Auffassung. Das Meer mit seinen Wellen und Wogen muß vielmehr als die eigentliche Natur, als der eigentliche Mutterschoß des Lebens betrachtet werden. Lange bevor Continente und Inseln aus den Fluthen sich erhoben hatten, hegte das Meer eine Thier- und Pflanzenwelt in seinen Tiefen. Aus dem Meere stammen jedenfalls die Thiere und Pflanzen des Festlandes her, wenn uns auch nicht bekannt ist, wie die ") Leipzig, F. A. Brockhaus 1873,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_130643/481>, abgerufen am 25.12.2024.