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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, I. Semester. I. Band.

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Wir glauben, daß Louise Seidler mehr gesehen als aufgezeichnet hat; und
die Harmlosigkeit, mit der sie so Manches bespricht, hat ihr über viele tiefe
Schatten und deren Zeichnung hinweggeholfen. Es scheint, als habe sie
Manches nicht gesehen, während wir nach ihren letzten Lebensjahren zu ur¬
theilen , nicht den Mangel feiner Beobachtungsgabe, sondern viel mehr die
Rücksicht auf das wirklich Mittheilbare als maßgebend für ihre Erzählung
anzusehen haben. Daß natürlich einzelne Schiefheiten des Urtheils sich finden,
ist leicht begreiflich, wenn man erwägt, daß Louise Seidler verhältnißmäßig
spät an die Vollendung ihrer Memoiren durch Dictat bei fast schon erfolgter
Erblindung dachte. Namentlich waren es die Anfänge der sechziger Jahre
dieses Jahrhunderts, wo dieses versucht wurde, was dem Herausgeber nicht
bekannt zu sein scheint. Beispielsweise warnen wir vor der historischen Glaub¬
würdigkeit dessen, was sie über die Schlacht von Jena und insbesondere über
den um Jena verdienstvollen katholischen Geistlichen Henry, der von ihr zum
Führer der Franzosen und zum Verräther des Vaterlandes gestempelt wird,
niedergeschrieben, während ein uns vorliegendes unbekanntes amtliches "Precis"
über die unglücklichen Tage von Jena, nur seine segensreiche Wirksamkeit
documentirt.

Was des Herausgebers eigne Wirksamkeit anlangt, so verkennen wir
trotz mangelhafter Präcisirung seiner Thätigkeit in der Vorrede die Verdienste
desselben nicht; er hat sicherlich deren mehr, als man vermuthen darf. Jeden¬
falls ist durch sachdienliche Erklärungen das Erwünschte geschehen, doch müssen
wir hinzufügen, daß das dritte Buch, welches, freilich aus lückenhaften Ma¬
terial, von ihm selbst erzählt ist, und das von 1823 bis zum Tode der Seidler
das Lebensbild ergänzt, lange nicht mit dem hübschen Erzählungstone des
ersten Theils zu vergleichen ist. Nichts desto weniger bleibt es das Verdienst
des Herausgebers, daß er als "Fremdling" in Weimar das Glück und das
ihm entgegengetragene Vertrauen benutzte, die Literatur um ein solches Buch
zu bereichern.


C. A. H. Burkhardt.


Mit diesem Hefte beginnt die Zeitschrift ein neues Halbjahr,
welches durch alle Buchhandlungen und Postanstalten des
In- und Auslandes zu beziehen ist.
Leipzig, im Dezember 1873.Die Berlagsbandlung.




Verantwortlicher Redakteur: or. Ha"" Blum.
Verlag von A. L. Herbig. -- Druck von Hiithel " Legler in Leipzig.

Wir glauben, daß Louise Seidler mehr gesehen als aufgezeichnet hat; und
die Harmlosigkeit, mit der sie so Manches bespricht, hat ihr über viele tiefe
Schatten und deren Zeichnung hinweggeholfen. Es scheint, als habe sie
Manches nicht gesehen, während wir nach ihren letzten Lebensjahren zu ur¬
theilen , nicht den Mangel feiner Beobachtungsgabe, sondern viel mehr die
Rücksicht auf das wirklich Mittheilbare als maßgebend für ihre Erzählung
anzusehen haben. Daß natürlich einzelne Schiefheiten des Urtheils sich finden,
ist leicht begreiflich, wenn man erwägt, daß Louise Seidler verhältnißmäßig
spät an die Vollendung ihrer Memoiren durch Dictat bei fast schon erfolgter
Erblindung dachte. Namentlich waren es die Anfänge der sechziger Jahre
dieses Jahrhunderts, wo dieses versucht wurde, was dem Herausgeber nicht
bekannt zu sein scheint. Beispielsweise warnen wir vor der historischen Glaub¬
würdigkeit dessen, was sie über die Schlacht von Jena und insbesondere über
den um Jena verdienstvollen katholischen Geistlichen Henry, der von ihr zum
Führer der Franzosen und zum Verräther des Vaterlandes gestempelt wird,
niedergeschrieben, während ein uns vorliegendes unbekanntes amtliches „Precis"
über die unglücklichen Tage von Jena, nur seine segensreiche Wirksamkeit
documentirt.

Was des Herausgebers eigne Wirksamkeit anlangt, so verkennen wir
trotz mangelhafter Präcisirung seiner Thätigkeit in der Vorrede die Verdienste
desselben nicht; er hat sicherlich deren mehr, als man vermuthen darf. Jeden¬
falls ist durch sachdienliche Erklärungen das Erwünschte geschehen, doch müssen
wir hinzufügen, daß das dritte Buch, welches, freilich aus lückenhaften Ma¬
terial, von ihm selbst erzählt ist, und das von 1823 bis zum Tode der Seidler
das Lebensbild ergänzt, lange nicht mit dem hübschen Erzählungstone des
ersten Theils zu vergleichen ist. Nichts desto weniger bleibt es das Verdienst
des Herausgebers, daß er als „Fremdling" in Weimar das Glück und das
ihm entgegengetragene Vertrauen benutzte, die Literatur um ein solches Buch
zu bereichern.


C. A. H. Burkhardt.


Mit diesem Hefte beginnt die Zeitschrift ein neues Halbjahr,
welches durch alle Buchhandlungen und Postanstalten des
In- und Auslandes zu beziehen ist.
Leipzig, im Dezember 1873.Die Berlagsbandlung.




Verantwortlicher Redakteur: or. Ha«» Blum.
Verlag von A. L. Herbig. — Druck von Hiithel » Legler in Leipzig.
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[0046] Wir glauben, daß Louise Seidler mehr gesehen als aufgezeichnet hat; und die Harmlosigkeit, mit der sie so Manches bespricht, hat ihr über viele tiefe Schatten und deren Zeichnung hinweggeholfen. Es scheint, als habe sie Manches nicht gesehen, während wir nach ihren letzten Lebensjahren zu ur¬ theilen , nicht den Mangel feiner Beobachtungsgabe, sondern viel mehr die Rücksicht auf das wirklich Mittheilbare als maßgebend für ihre Erzählung anzusehen haben. Daß natürlich einzelne Schiefheiten des Urtheils sich finden, ist leicht begreiflich, wenn man erwägt, daß Louise Seidler verhältnißmäßig spät an die Vollendung ihrer Memoiren durch Dictat bei fast schon erfolgter Erblindung dachte. Namentlich waren es die Anfänge der sechziger Jahre dieses Jahrhunderts, wo dieses versucht wurde, was dem Herausgeber nicht bekannt zu sein scheint. Beispielsweise warnen wir vor der historischen Glaub¬ würdigkeit dessen, was sie über die Schlacht von Jena und insbesondere über den um Jena verdienstvollen katholischen Geistlichen Henry, der von ihr zum Führer der Franzosen und zum Verräther des Vaterlandes gestempelt wird, niedergeschrieben, während ein uns vorliegendes unbekanntes amtliches „Precis" über die unglücklichen Tage von Jena, nur seine segensreiche Wirksamkeit documentirt. Was des Herausgebers eigne Wirksamkeit anlangt, so verkennen wir trotz mangelhafter Präcisirung seiner Thätigkeit in der Vorrede die Verdienste desselben nicht; er hat sicherlich deren mehr, als man vermuthen darf. Jeden¬ falls ist durch sachdienliche Erklärungen das Erwünschte geschehen, doch müssen wir hinzufügen, daß das dritte Buch, welches, freilich aus lückenhaften Ma¬ terial, von ihm selbst erzählt ist, und das von 1823 bis zum Tode der Seidler das Lebensbild ergänzt, lange nicht mit dem hübschen Erzählungstone des ersten Theils zu vergleichen ist. Nichts desto weniger bleibt es das Verdienst des Herausgebers, daß er als „Fremdling" in Weimar das Glück und das ihm entgegengetragene Vertrauen benutzte, die Literatur um ein solches Buch zu bereichern. C. A. H. Burkhardt. Mit diesem Hefte beginnt die Zeitschrift ein neues Halbjahr, welches durch alle Buchhandlungen und Postanstalten des In- und Auslandes zu beziehen ist. Leipzig, im Dezember 1873.Die Berlagsbandlung. Verantwortlicher Redakteur: or. Ha«» Blum. Verlag von A. L. Herbig. — Druck von Hiithel » Legler in Leipzig.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_130643/46>, abgerufen am 25.12.2024.