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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, I. Semester. I. Band.

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in der Nachbarschaft, in Gotha. in Altenburg, Dresden u. s. w>, völlig singe-
lebte und heimatberechtigte Zubehörige zu durchleben und aufzufassen vermocht.
Keine Frage, daß die damaligen Geistes-Revolutionen in Jena in ihrer Art
mindestens ebenso tief in die Geschichte der deutschen Bildung unserer klassi¬
schen Periode und jedenfalls vielseitiger eingegriffen haben, wie die poetischen
Großthaten unserer Dichterheroen in Weimar. Von einem Mädchen, einer
Künstlerin, einer durch und durch zart und weich, gefühlvoll gestimmten
Natur, darf man nicht verlangen, daß sie das herbe philosophische Ringen,
was sich vor ihrem leiblichen Auge hier vollzog, wo ein Reinhold, Fichte,
Schelling und Hegel zu dem geworden sind, was sie waren, mit ihrem innern
Blicke erfaßt hätte. Davon ist hier in den Erinnerungen keine Spur, und
selbst die menschlichen Persönlichkeiten jener gewaltigen Athleten im Geistes¬
kampfe haben mit Ausnahme des einen, Schelling, bei ihr keinen Eindruck
hinterlassen. Aber auch Schelling nicht als Philosoph, sondern als Gemahl
ihrer schwärmerisch geliebten Jugendfreundin Pauline Götter und ebendeshalb
nicht der für die Wissenschaft vorzugsweise bedeutende Schelling aus seiner
Sturm- und Drangperiode in Jena, sondern der in vornehmer Behaglichkeit
und edelster Häuslichkeit zu München refidirende Großmeister einer mehr auf
den Glauoen als auf das Schauen oder Begreifen gegründeten geheimni߬
vollen Weisheit. Dafür ist sie desto heimischer in den Kreisen der Roman¬
tiker, die ja damals ihren Sammelplatz in Jena hatten, auch hier wieder be¬
sonders durch die Frauen herangezogen. Eine davon, Dorothea Veit oder
Schlegel, ist ihr eine durch und durch sympathische Erscheinung und während
des ganzen Lebens eine treue Freundin geblieben. Die andern Sterne ver¬
schwinden nach und nach von ihrem Horizont oder tauchen nur einmal vor¬
übergehend auf, Dorothea dagegen ist mit der glücklichsten Lebensperiode der
Künstlerin, mit ihrer römischen Studienzeit während der Jahre 181S--1823,
innigst verwachsen und auch später, wo Philipp Veit, ihr Sohn aus der
früheren Ehe, als einer der Chorführer der Nazarener nach Frankfurt über¬
siedelte, wurden die Bande zwischen beiden Frauen immer noch fester, um erst
mit dem Tode der älteren zerschnitten zu werden. Eine so seltsame und in
vieler Hinsicht den Zeitgenossen ebenso sehr wie uns unverständliche und wider¬
strebende Natur wie die Dorothea's hat sich also auch dem reinen und un¬
schuldigen Zauber nicht entziehen können, der von dem damals, als sich das
Verhältniß knüpfte, noch so jugendlichen, durch keine irgendwie nennenswerthe
Aeußerung besonderer Talente hervorragenden Mädchen ausging und diese hat
auch hier wieder die aus der Tiefe eines unendlich warmen Herzens hervor¬
gehende grenzenlose Elasticität und Anschmiegungsfähigkeit bekundet, die sie zu
einem so lehrreichen Gegenstand psychologischer Betrachtung macht, auch wenn
sie nicht durch ihre Leistungen und das oder die, die sie gesehen und gekannt


in der Nachbarschaft, in Gotha. in Altenburg, Dresden u. s. w>, völlig singe-
lebte und heimatberechtigte Zubehörige zu durchleben und aufzufassen vermocht.
Keine Frage, daß die damaligen Geistes-Revolutionen in Jena in ihrer Art
mindestens ebenso tief in die Geschichte der deutschen Bildung unserer klassi¬
schen Periode und jedenfalls vielseitiger eingegriffen haben, wie die poetischen
Großthaten unserer Dichterheroen in Weimar. Von einem Mädchen, einer
Künstlerin, einer durch und durch zart und weich, gefühlvoll gestimmten
Natur, darf man nicht verlangen, daß sie das herbe philosophische Ringen,
was sich vor ihrem leiblichen Auge hier vollzog, wo ein Reinhold, Fichte,
Schelling und Hegel zu dem geworden sind, was sie waren, mit ihrem innern
Blicke erfaßt hätte. Davon ist hier in den Erinnerungen keine Spur, und
selbst die menschlichen Persönlichkeiten jener gewaltigen Athleten im Geistes¬
kampfe haben mit Ausnahme des einen, Schelling, bei ihr keinen Eindruck
hinterlassen. Aber auch Schelling nicht als Philosoph, sondern als Gemahl
ihrer schwärmerisch geliebten Jugendfreundin Pauline Götter und ebendeshalb
nicht der für die Wissenschaft vorzugsweise bedeutende Schelling aus seiner
Sturm- und Drangperiode in Jena, sondern der in vornehmer Behaglichkeit
und edelster Häuslichkeit zu München refidirende Großmeister einer mehr auf
den Glauoen als auf das Schauen oder Begreifen gegründeten geheimni߬
vollen Weisheit. Dafür ist sie desto heimischer in den Kreisen der Roman¬
tiker, die ja damals ihren Sammelplatz in Jena hatten, auch hier wieder be¬
sonders durch die Frauen herangezogen. Eine davon, Dorothea Veit oder
Schlegel, ist ihr eine durch und durch sympathische Erscheinung und während
des ganzen Lebens eine treue Freundin geblieben. Die andern Sterne ver¬
schwinden nach und nach von ihrem Horizont oder tauchen nur einmal vor¬
übergehend auf, Dorothea dagegen ist mit der glücklichsten Lebensperiode der
Künstlerin, mit ihrer römischen Studienzeit während der Jahre 181S—1823,
innigst verwachsen und auch später, wo Philipp Veit, ihr Sohn aus der
früheren Ehe, als einer der Chorführer der Nazarener nach Frankfurt über¬
siedelte, wurden die Bande zwischen beiden Frauen immer noch fester, um erst
mit dem Tode der älteren zerschnitten zu werden. Eine so seltsame und in
vieler Hinsicht den Zeitgenossen ebenso sehr wie uns unverständliche und wider¬
strebende Natur wie die Dorothea's hat sich also auch dem reinen und un¬
schuldigen Zauber nicht entziehen können, der von dem damals, als sich das
Verhältniß knüpfte, noch so jugendlichen, durch keine irgendwie nennenswerthe
Aeußerung besonderer Talente hervorragenden Mädchen ausging und diese hat
auch hier wieder die aus der Tiefe eines unendlich warmen Herzens hervor¬
gehende grenzenlose Elasticität und Anschmiegungsfähigkeit bekundet, die sie zu
einem so lehrreichen Gegenstand psychologischer Betrachtung macht, auch wenn
sie nicht durch ihre Leistungen und das oder die, die sie gesehen und gekannt


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_130643/452>, abgerufen am 26.12.2024.