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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, I. Semester. I. Band.

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überhaupt um höhere Interessen und nicht um kleine Zufälligkeiten des täg¬
lichen Verkehrs immer nur um den eigentlichen Beruf der Empfängerin, die
Malerei und das Verhältniß ihrer eignen Schöpfung zu den leitenden
Maximen der Weimarischen Kunstfreunde, d. h. Goethe's und seines kunst.
lerischen Hausorakels, des jetzt nicht gut beleumdeter "Kunscht-Meyers".
Aber es ist ebenso rührend für den einfachen Leser, wie für den Goetheforscher
und Exegeten belehrend zu sehen, welche zarte Schonung und humane
Duldsamkeit das tiefe und edle Gemüth Goethe's auch einer ihm innerlich
sit widerstrebenden Richtung fortwährend bethätigte. Denn die Malerin war
doch immer und wurde mehr und mehr eine echte Nazarenerin. Aber Goethe
hörte nicht auf, jede ihrer Productionen mit der liebevollsten Theilnahme auf
sich wirken zu lassen. Von Verstellung oder Falschheit kann dabei nicht die
Rede sein. Er that es, weil ihm die Persönlichkeit der Künstlerin ein für
allemal ins Herz gewachsen war und gerade diese Selbstüberwindung, die
nicht in der Reflexion des Verstandes, sondern in dem Gemüthe und Herzen
wurzelt, ist ein schöner Beitrag zu dem immer noch so wenig gekannten
Characterbilde des Menschen Goethe.

Im unmittelbaren Anschluß an Goethe selbst erfährt man hier Manches
über eng mit ihm verflochtene Persönlichkeiten, die von der landläufigen
Schätzung immer noch zu einseitig und zwar meist zu ihren und mittelbar
auch zu seinen Ungunsten beurtheilt werden. Wir denken dabei zuerst an die
immer noch so übel berüchtigte Vulpia. Im Grunde herrscht von ihr auch bei
den gebildeteren Goethefreunden die Vorstellung, der einst Bettina, und bei
ihr ist es begreiflich warum? in der Signatur "wahnsinnige Blutwurst" einen
so drastischen Ausdruck gab. Louise Seidler, deren feine Weiblichkeit gewiß
nicht mit der handfesten Welttüchtigkeit Christianens sympathisirte, giebt ihr
doch ein anderes Zeugniß. "Da ich wußte", schreibt sie in ihr Tagebuch nach
dem plötzlichen Tode jener Frau, "daß der Dichter sie von Herzen lieb ge¬
habt, daß er stets gefühlt, wie sie ihm das Leben erleichtert durch Abwehren
von Dingen, die ihm lästig wurden, so drängte es mich, ihm schriftlich mein
innigstes Mitgefühl auszusprechen." Sie erhielt darauf folgende Antwort:
"Den lieben Jenaischen Freunden und Nachbarn tausend Dank für ihre tröst¬
lichen Worte. Bei dem großen Verluste kann mir das Leben nur erträglich
werden, wenn ich nach und nach mir vorzähle, was Gutes und Liebes mir
alles geblieben ist."

Auch über eine andere Goethe'sche Frauengestalt, um die sich umgekehrt
eine ganze Wolke phantastischer Tradition zu ihrer Verklärung und zur Ver¬
unglimpfung des Dichters gesammelt hat, über Minna Herzlich, sind diese
Seidler'schen Memoiren reich, nicht gerade an neuen Aufschlüssen, aber an
solchen, die in sich den Stempel der vollsten Wahrhaftigkeit und Unbefangen-


überhaupt um höhere Interessen und nicht um kleine Zufälligkeiten des täg¬
lichen Verkehrs immer nur um den eigentlichen Beruf der Empfängerin, die
Malerei und das Verhältniß ihrer eignen Schöpfung zu den leitenden
Maximen der Weimarischen Kunstfreunde, d. h. Goethe's und seines kunst.
lerischen Hausorakels, des jetzt nicht gut beleumdeter „Kunscht-Meyers".
Aber es ist ebenso rührend für den einfachen Leser, wie für den Goetheforscher
und Exegeten belehrend zu sehen, welche zarte Schonung und humane
Duldsamkeit das tiefe und edle Gemüth Goethe's auch einer ihm innerlich
sit widerstrebenden Richtung fortwährend bethätigte. Denn die Malerin war
doch immer und wurde mehr und mehr eine echte Nazarenerin. Aber Goethe
hörte nicht auf, jede ihrer Productionen mit der liebevollsten Theilnahme auf
sich wirken zu lassen. Von Verstellung oder Falschheit kann dabei nicht die
Rede sein. Er that es, weil ihm die Persönlichkeit der Künstlerin ein für
allemal ins Herz gewachsen war und gerade diese Selbstüberwindung, die
nicht in der Reflexion des Verstandes, sondern in dem Gemüthe und Herzen
wurzelt, ist ein schöner Beitrag zu dem immer noch so wenig gekannten
Characterbilde des Menschen Goethe.

Im unmittelbaren Anschluß an Goethe selbst erfährt man hier Manches
über eng mit ihm verflochtene Persönlichkeiten, die von der landläufigen
Schätzung immer noch zu einseitig und zwar meist zu ihren und mittelbar
auch zu seinen Ungunsten beurtheilt werden. Wir denken dabei zuerst an die
immer noch so übel berüchtigte Vulpia. Im Grunde herrscht von ihr auch bei
den gebildeteren Goethefreunden die Vorstellung, der einst Bettina, und bei
ihr ist es begreiflich warum? in der Signatur „wahnsinnige Blutwurst" einen
so drastischen Ausdruck gab. Louise Seidler, deren feine Weiblichkeit gewiß
nicht mit der handfesten Welttüchtigkeit Christianens sympathisirte, giebt ihr
doch ein anderes Zeugniß. „Da ich wußte", schreibt sie in ihr Tagebuch nach
dem plötzlichen Tode jener Frau, „daß der Dichter sie von Herzen lieb ge¬
habt, daß er stets gefühlt, wie sie ihm das Leben erleichtert durch Abwehren
von Dingen, die ihm lästig wurden, so drängte es mich, ihm schriftlich mein
innigstes Mitgefühl auszusprechen." Sie erhielt darauf folgende Antwort:
„Den lieben Jenaischen Freunden und Nachbarn tausend Dank für ihre tröst¬
lichen Worte. Bei dem großen Verluste kann mir das Leben nur erträglich
werden, wenn ich nach und nach mir vorzähle, was Gutes und Liebes mir
alles geblieben ist."

Auch über eine andere Goethe'sche Frauengestalt, um die sich umgekehrt
eine ganze Wolke phantastischer Tradition zu ihrer Verklärung und zur Ver¬
unglimpfung des Dichters gesammelt hat, über Minna Herzlich, sind diese
Seidler'schen Memoiren reich, nicht gerade an neuen Aufschlüssen, aber an
solchen, die in sich den Stempel der vollsten Wahrhaftigkeit und Unbefangen-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_130643/450>, abgerufen am 26.08.2024.