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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, I. Semester. I. Band.

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legen. Wir hallen nicht nöthig, bei den Einzelheiten zu verweilen. Dafür
müssen wir auf den Vortrag des Reichskanzlers eingehen, der in sachlich ad¬
ministrativer Beziehung den Ausführungen des Reichscommissars, Mini¬
ster"! - Direktor Herzogs, nichts hinzufügen zu können erklärte, aber dafür
auf die politische Seite der Annexion einging. Der Reichskanzler holte also
nach, was manchen Stimmen aus Elsaß-Lothringen zufolge bei der Erörter¬
ung des Antrags Teutsch und Genossen im Reichstag versäumt worden. Die
Ausführung war wieder von jenem unwiderstehlichen gesunden Menschenver¬
stand, welcher allem Streit und Hin- und Herreden ein Ende macht. Der
Kanzler sagte: "Die Herrn beklagen sich, daß wir sie in den drei Jahren
nicht so glücklich gemacht, wie sie zwar unter französischer Herrschaft auch nicht
gewesen, aber, aber wie sie es gern sein möchten und wir es ihnen auch
wünschen. Wir wünschen es ihnen, aber der Zweck der Annexion war es
nicht." -- Da liegt es. Wir Deutsche sind nicht wie die Franzosen, welche
die Annexion als Weltbeglückungsgeschäft betreiben. Dazu gehört dann auch
die Abstimmungscomödie. Die Annectirten müssen erklären, daß sie be¬
glückt werden durch die Ehre, der großen Nation anzugehören. Wehe
dem, der das nicht erklärt! Er wird als unwürdig behandelt und
jedem Unglimpf ausgesetzt. -- Wir Deutsche haben nicht daran gedacht,
das Elsaß zu nehmen, um seine Bewohner glücklich zu machen oder um die¬
selben als unsere Stammesbrüder in die politische Gemeinschaft mit uns zu¬
rückzuführen. Nein, wir haben uns nur genöthigt gesehen, von dem Gebiet
eines ewig feindlichen Nachbars eine Spitze abzubrechen, welche "tief in unser
Fleisch hineinragte". Hier ist der Punkt, welcher die ganze Frage beherrscht.
Die Grenzen der Staaten werden nicht gezogen weder durch die Ethnographie
noch durch die Geographie, sondern durch die Geschichte. Ein Volk, das
seinen Nachbar 200 Jahre lang mit verheerenden Einfällen heimsucht, kann
sich nicht beschweren, wenn dieser Nachbar uach einer ungewöhnlich erfolgreichen
Abwehr sich eine Grenzlandschaft zurücknimmt, welche der böse Nachbar dem
guten einst entrissen, als der letztere innerer Schwäche anheim gefallen war.
Die Bewohner der Grenzlandschaft aber, wenn sie an dem Raubsystem des
bösen Nachbars mit Freuden Theil genommen haben, verwirken alles und
jedes Recht, bei dem Schicksal der von ihnen bewohnten Landschaft gehört zu
werden. Ihr eigenes Schicksal gehört ihnen. Sie konnten und könnten jeden
Tag auswandern. Ihr Land aber, das im französischen Besitz zum Ausfalls¬
thor gegen unser friedliches Deutschland 200 Jahre lang mißbraucht worden,
müssen wir endlich wieder haben, um unser nationales Dasein, das Nieman¬
dem zu nahe tritt, in einiger Sicherheit zu genießen. Besonders schlagend
war auch die Ausführung des Kanzlers, daß die Elsaß-Lothringer, wenn sie
durchaus Franzosen bleiben wollten, gegen den Angriff von 1870 hätten


legen. Wir hallen nicht nöthig, bei den Einzelheiten zu verweilen. Dafür
müssen wir auf den Vortrag des Reichskanzlers eingehen, der in sachlich ad¬
ministrativer Beziehung den Ausführungen des Reichscommissars, Mini¬
ster«! - Direktor Herzogs, nichts hinzufügen zu können erklärte, aber dafür
auf die politische Seite der Annexion einging. Der Reichskanzler holte also
nach, was manchen Stimmen aus Elsaß-Lothringen zufolge bei der Erörter¬
ung des Antrags Teutsch und Genossen im Reichstag versäumt worden. Die
Ausführung war wieder von jenem unwiderstehlichen gesunden Menschenver¬
stand, welcher allem Streit und Hin- und Herreden ein Ende macht. Der
Kanzler sagte: „Die Herrn beklagen sich, daß wir sie in den drei Jahren
nicht so glücklich gemacht, wie sie zwar unter französischer Herrschaft auch nicht
gewesen, aber, aber wie sie es gern sein möchten und wir es ihnen auch
wünschen. Wir wünschen es ihnen, aber der Zweck der Annexion war es
nicht." — Da liegt es. Wir Deutsche sind nicht wie die Franzosen, welche
die Annexion als Weltbeglückungsgeschäft betreiben. Dazu gehört dann auch
die Abstimmungscomödie. Die Annectirten müssen erklären, daß sie be¬
glückt werden durch die Ehre, der großen Nation anzugehören. Wehe
dem, der das nicht erklärt! Er wird als unwürdig behandelt und
jedem Unglimpf ausgesetzt. — Wir Deutsche haben nicht daran gedacht,
das Elsaß zu nehmen, um seine Bewohner glücklich zu machen oder um die¬
selben als unsere Stammesbrüder in die politische Gemeinschaft mit uns zu¬
rückzuführen. Nein, wir haben uns nur genöthigt gesehen, von dem Gebiet
eines ewig feindlichen Nachbars eine Spitze abzubrechen, welche „tief in unser
Fleisch hineinragte". Hier ist der Punkt, welcher die ganze Frage beherrscht.
Die Grenzen der Staaten werden nicht gezogen weder durch die Ethnographie
noch durch die Geographie, sondern durch die Geschichte. Ein Volk, das
seinen Nachbar 200 Jahre lang mit verheerenden Einfällen heimsucht, kann
sich nicht beschweren, wenn dieser Nachbar uach einer ungewöhnlich erfolgreichen
Abwehr sich eine Grenzlandschaft zurücknimmt, welche der böse Nachbar dem
guten einst entrissen, als der letztere innerer Schwäche anheim gefallen war.
Die Bewohner der Grenzlandschaft aber, wenn sie an dem Raubsystem des
bösen Nachbars mit Freuden Theil genommen haben, verwirken alles und
jedes Recht, bei dem Schicksal der von ihnen bewohnten Landschaft gehört zu
werden. Ihr eigenes Schicksal gehört ihnen. Sie konnten und könnten jeden
Tag auswandern. Ihr Land aber, das im französischen Besitz zum Ausfalls¬
thor gegen unser friedliches Deutschland 200 Jahre lang mißbraucht worden,
müssen wir endlich wieder haben, um unser nationales Dasein, das Nieman¬
dem zu nahe tritt, in einiger Sicherheit zu genießen. Besonders schlagend
war auch die Ausführung des Kanzlers, daß die Elsaß-Lothringer, wenn sie
durchaus Franzosen bleiben wollten, gegen den Angriff von 1870 hätten


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_130643/436>, abgerufen am 28.08.2024.