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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, I. Semester. I. Band.

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frei, dann zieht es Venetien ein, dann mag sich Oesterreich an Preußen ent-
schädigen. Eine musterhafte Vertragstreue, wie man fleht, deren sich ein
Macchiavell nicht zu schämen hätte. Napoleon war mit dem Zögling in
Florenz zufrieden; die Congreßidee imponirte ihm gewaltig. Schon am 7. Mai
versprach er Nigra sein Möglichstes zu thun, um sie aufs Tapet zu bringen
(am 6. war er in Auxerre gewesen und hatte dort seine Rede gegen die Ver¬
träge von 181S gehalten); schon am 9. berichtet Barral aus Berlin, daß
dies geschehen sei. Wieder zwei Tage später theilt Nigra bereits die Grund¬
lagen mit, die Napoleon in Aussicht genommen habe: Abtretung Venetiens
an Italien, Schlesiens an Oesterreich, der Eid-Herzogthümer und einiger
anderer deutschen Länder an Preußen; am Rhein sollen drei oder vier
kleine Herzogthümer unter französischem Schutz entstehen, die anderen depofse-
dirten Fürsten aber in Rumänien entschädigt werden.

Lamarmora war also weit davon entfernt gewesen, den Antrag Napoleon's
rundweg abzulehnen; sein Verdienst war es, wenn jetzt die Bahn des Con-
gresses betreten wurde. Dennoch behauptet er stolz: "Gänzlich und ohne
Weiteres habe ich die Verantwortlichkeit auf mich genommen, die Cession
auszuschlagen, eine Verantwortlichkeit, wofür mir Preußen und, was noch
schmerzlicher ist, viele Italiener nie Dank wußten." Das Actenstück, durch
welches er die Cession ausgeschlagen, enthält er jedoch bescheidener Weise
seinen Lesern vor. Nigra, so scheint es, hat es auch nicht zu sehen bekommen.
Wenigstens schrieb er am 12. Juni: "Erinnern Sie sich nur daran, daß
Oesterreich uns keinen Vorschlag gemacht hat, und wir ihm nicht haben ant¬
worten müssen." Durch den Congreßvorschlag, der in Paris erst durch La¬
marmora zur Sprache kam, wenngleich England gerade damals ihn auch vor¬
bereitete, war jede unumwundene Antwort auf das österreichische Anerbieten
umgangen worden, auch eine solche, die an Frankreichs Adresse gerichtet ge¬
wesen wäre. Das kümmert aber Lamarmora wenig, und mit diesem erdichteten
Ruhme noch nicht zufrieden, sucht er nach Mitteln, sich noch mehr zu ver¬
herrlichen. Indem er Bismarck's Erklärungen vom 2. Mai völlig ignorirt,
fragt er bei Barral feierlich nochmals an, ob Preußen Italien wirklich gegen
einen Angriff Oesterreichs beistehen werde. Der Leser soll recht geflissentlich
dahin gebracht weeden. diese ganz unumwunden bejahte Frage für eine offene,
für einen "dunklen Punkt" zu halten; weshalb denn auch des Briefes, den
König Wilhelm am 6. Mai an Victor Emanuel schrieb, um ihn deshalb zu
beruhigen, mit keiner Silbe gedacht wird. Weiter behauptet Lamarmora. um
die Versuchung, daß er siegreich widerstanden, recht groß erscheinen zu lassen:
Oesterreich habe am 6. Mai einen modificirten Vorschlag gemacht, indem es
die Abtretung Venetiens nur von der Neutralität Italiens und Frankreichs,
nicht von dem vorhergehenden Erwerbe Schlesiens abhängig gemacht habe.


frei, dann zieht es Venetien ein, dann mag sich Oesterreich an Preußen ent-
schädigen. Eine musterhafte Vertragstreue, wie man fleht, deren sich ein
Macchiavell nicht zu schämen hätte. Napoleon war mit dem Zögling in
Florenz zufrieden; die Congreßidee imponirte ihm gewaltig. Schon am 7. Mai
versprach er Nigra sein Möglichstes zu thun, um sie aufs Tapet zu bringen
(am 6. war er in Auxerre gewesen und hatte dort seine Rede gegen die Ver¬
träge von 181S gehalten); schon am 9. berichtet Barral aus Berlin, daß
dies geschehen sei. Wieder zwei Tage später theilt Nigra bereits die Grund¬
lagen mit, die Napoleon in Aussicht genommen habe: Abtretung Venetiens
an Italien, Schlesiens an Oesterreich, der Eid-Herzogthümer und einiger
anderer deutschen Länder an Preußen; am Rhein sollen drei oder vier
kleine Herzogthümer unter französischem Schutz entstehen, die anderen depofse-
dirten Fürsten aber in Rumänien entschädigt werden.

Lamarmora war also weit davon entfernt gewesen, den Antrag Napoleon's
rundweg abzulehnen; sein Verdienst war es, wenn jetzt die Bahn des Con-
gresses betreten wurde. Dennoch behauptet er stolz: „Gänzlich und ohne
Weiteres habe ich die Verantwortlichkeit auf mich genommen, die Cession
auszuschlagen, eine Verantwortlichkeit, wofür mir Preußen und, was noch
schmerzlicher ist, viele Italiener nie Dank wußten." Das Actenstück, durch
welches er die Cession ausgeschlagen, enthält er jedoch bescheidener Weise
seinen Lesern vor. Nigra, so scheint es, hat es auch nicht zu sehen bekommen.
Wenigstens schrieb er am 12. Juni: „Erinnern Sie sich nur daran, daß
Oesterreich uns keinen Vorschlag gemacht hat, und wir ihm nicht haben ant¬
worten müssen." Durch den Congreßvorschlag, der in Paris erst durch La¬
marmora zur Sprache kam, wenngleich England gerade damals ihn auch vor¬
bereitete, war jede unumwundene Antwort auf das österreichische Anerbieten
umgangen worden, auch eine solche, die an Frankreichs Adresse gerichtet ge¬
wesen wäre. Das kümmert aber Lamarmora wenig, und mit diesem erdichteten
Ruhme noch nicht zufrieden, sucht er nach Mitteln, sich noch mehr zu ver¬
herrlichen. Indem er Bismarck's Erklärungen vom 2. Mai völlig ignorirt,
fragt er bei Barral feierlich nochmals an, ob Preußen Italien wirklich gegen
einen Angriff Oesterreichs beistehen werde. Der Leser soll recht geflissentlich
dahin gebracht weeden. diese ganz unumwunden bejahte Frage für eine offene,
für einen „dunklen Punkt" zu halten; weshalb denn auch des Briefes, den
König Wilhelm am 6. Mai an Victor Emanuel schrieb, um ihn deshalb zu
beruhigen, mit keiner Silbe gedacht wird. Weiter behauptet Lamarmora. um
die Versuchung, daß er siegreich widerstanden, recht groß erscheinen zu lassen:
Oesterreich habe am 6. Mai einen modificirten Vorschlag gemacht, indem es
die Abtretung Venetiens nur von der Neutralität Italiens und Frankreichs,
nicht von dem vorhergehenden Erwerbe Schlesiens abhängig gemacht habe.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_130643/434>, abgerufen am 25.12.2024.