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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, I. Semester. I. Band.

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zelnen noch bedeutende Veränderung erfuhr, in seinen wesentlichen Zügen aber
festgehalten wurde. Man glaubte auf diese Weise dem Grafen von Chambord
die erforderlichen Zugeständnisse zu erleichtern, indem man sie als freiwillig
erscheinen ließ. Darauf aber mußte man allerdings bestehn, daß der Graf
in völlig unzweideutiger Weise vor dem Zusammentritt der Nationalver¬
sammlung vor ganz Frankreich, sei es in einem für die Oeffentlichkeit bestimmten
Schreiben, sei es, was den Vorzug zu verdienen schien, in einem Manifest an
die Nation, erklärte, daß er die Tricolore annehme, und sich im Voraus
zur Genehmigung der von der Nationalversammlung zu entwerfenden Ver"
fassung verpflichte. Sobald die Erklärung gegeben ward, konnte die Perma¬
nenzcommission ohne Bedenken sofort die Nationalversammlung zusammen¬
berufen.

Die Hoffnungen der Royalisten wurden durch die Wahrnehmung einer
allmählichen Umstimmung der Bevölkerung gesteigert. Das herrschende Gefühl
in Frankreich war die Sehnsucht nach ruhigen, Dauer verheißenden Zuständen.
Die Frage der Regierungsform, wie tief sie auch die Parteien der National¬
versammlung spaltete, ließ die Bevölkerung bei weitem kälter, als es nach der
Heftigkeit, mit welcher in den Zeitungen dieselbe erörtert wurde, schien. Man
konnte mit einem gewissen Rechte behaupten, daß die Mehrheit der Bevölkerung
republikanisch gesinnt war, aber sie war es nur deshalb, weil die Republik
gerade bestand, und weil man die Gefahren und Erschütterungen des Ueber¬
gangs zur Monarchie fürchtete. Eine wirkliche Abneigung empfand das Land
nur gegen das, was man unter dem gefürchteten Namen des freien r6ßimv
verstand. Ließ sich das Königthum ohne das verhaßte Regime auf parlamen¬
tarischem Wege herstellen, so würde das Land sich ohne jeden Versuch des
Widerstandes und mit geheimer Befriedigung dem Beschlusse der National¬
versammlung gefügt haben. Als ein sehr merkwürdiges Zeichen dieser sich
vollziehenden Umstimmung erregten die Herzensergüsse John Lemoinne's im
"Journal des Debats" große Aufmerksamkeit und im republikanischen Lager
großen Aerger. Lemoinne ist ohne Zweifel einer der geistreichsten französischen
Publicisten, einer der wenigen, die im Stande sind, durch die umhüllenden
Nebel des abgestandenen Phrasenschwalls und der täglich wiederholten Partei¬
schlagwörter hindurch die Dinge in ihrer wirklichen Gestalt zu sehen. Seine
Aufsätze trugen denn auch den Stempel einer gewissen Originalität, die ihm
in Frankreich, wo man gegen alles von dem hergebrachten Gedankengeleise
sich Entfernende ein unüberwindliches Mißtrauen hat, den Ruf eines politischen
Sonderlings, eines geistreichen aber verschrobenen Kopfes und eines unzuver¬
lässigen politischen Charakters erworben hatte. Der Ruf der Unzuverlässigkeit
ist wohl nicht ganz unverdient. Die Fähigkeit, eine selbständige Ansicht zu
haben, und der Muth, sie auszusprechen, hat in einem Lande, wo so leicht


Grenzboten I. 1874. 52

zelnen noch bedeutende Veränderung erfuhr, in seinen wesentlichen Zügen aber
festgehalten wurde. Man glaubte auf diese Weise dem Grafen von Chambord
die erforderlichen Zugeständnisse zu erleichtern, indem man sie als freiwillig
erscheinen ließ. Darauf aber mußte man allerdings bestehn, daß der Graf
in völlig unzweideutiger Weise vor dem Zusammentritt der Nationalver¬
sammlung vor ganz Frankreich, sei es in einem für die Oeffentlichkeit bestimmten
Schreiben, sei es, was den Vorzug zu verdienen schien, in einem Manifest an
die Nation, erklärte, daß er die Tricolore annehme, und sich im Voraus
zur Genehmigung der von der Nationalversammlung zu entwerfenden Ver«
fassung verpflichte. Sobald die Erklärung gegeben ward, konnte die Perma¬
nenzcommission ohne Bedenken sofort die Nationalversammlung zusammen¬
berufen.

Die Hoffnungen der Royalisten wurden durch die Wahrnehmung einer
allmählichen Umstimmung der Bevölkerung gesteigert. Das herrschende Gefühl
in Frankreich war die Sehnsucht nach ruhigen, Dauer verheißenden Zuständen.
Die Frage der Regierungsform, wie tief sie auch die Parteien der National¬
versammlung spaltete, ließ die Bevölkerung bei weitem kälter, als es nach der
Heftigkeit, mit welcher in den Zeitungen dieselbe erörtert wurde, schien. Man
konnte mit einem gewissen Rechte behaupten, daß die Mehrheit der Bevölkerung
republikanisch gesinnt war, aber sie war es nur deshalb, weil die Republik
gerade bestand, und weil man die Gefahren und Erschütterungen des Ueber¬
gangs zur Monarchie fürchtete. Eine wirkliche Abneigung empfand das Land
nur gegen das, was man unter dem gefürchteten Namen des freien r6ßimv
verstand. Ließ sich das Königthum ohne das verhaßte Regime auf parlamen¬
tarischem Wege herstellen, so würde das Land sich ohne jeden Versuch des
Widerstandes und mit geheimer Befriedigung dem Beschlusse der National¬
versammlung gefügt haben. Als ein sehr merkwürdiges Zeichen dieser sich
vollziehenden Umstimmung erregten die Herzensergüsse John Lemoinne's im
„Journal des Debats" große Aufmerksamkeit und im republikanischen Lager
großen Aerger. Lemoinne ist ohne Zweifel einer der geistreichsten französischen
Publicisten, einer der wenigen, die im Stande sind, durch die umhüllenden
Nebel des abgestandenen Phrasenschwalls und der täglich wiederholten Partei¬
schlagwörter hindurch die Dinge in ihrer wirklichen Gestalt zu sehen. Seine
Aufsätze trugen denn auch den Stempel einer gewissen Originalität, die ihm
in Frankreich, wo man gegen alles von dem hergebrachten Gedankengeleise
sich Entfernende ein unüberwindliches Mißtrauen hat, den Ruf eines politischen
Sonderlings, eines geistreichen aber verschrobenen Kopfes und eines unzuver¬
lässigen politischen Charakters erworben hatte. Der Ruf der Unzuverlässigkeit
ist wohl nicht ganz unverdient. Die Fähigkeit, eine selbständige Ansicht zu
haben, und der Muth, sie auszusprechen, hat in einem Lande, wo so leicht


Grenzboten I. 1874. 52
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_130643/415>, abgerufen am 29.08.2024.