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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, I. Semester. I. Band.

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denken können. Ob die Verhältnisse in Lothringen, namentlich in Metz, wegen
des dort allerdings scharf hervortretenden Gegensatzes der Nationalitäten wesent¬
lich anders liegen, wage ich nicht zu entscheiden. Die dortige "reichsfreundliche
Partei", d. h. die deutsche Einwanderung, soll die Absicht haben, den Grafen
Guido Henckel von Donnersmark aufzustellen. Offen gestanden, ist uns die
Konstituirung der Deutschen in Metz zu einer politischen Partei niemals
als ein sehr zweckmäßiger Schritt erschienen; und auch jetzt, will uns bedünken,
als thäten unsere Landsleute besser daran, ihre Stimme irgend einem gemä¬
ßigten Manne aus der eingeborenen Bevölkerung zu geben. -- Wie die Re¬
gierung sich angesichts der Wahlen zu verhalten hat, kann keinen Augenblick
zweifelhaft sein, nämlich lediglich als die Hüterin der Gesetze, ohne eine active
Einmischung in den Gang der Wahlbewegung zu versuchen. Zum größten
Bedauern aller Gemäßigten beging die hiesige Polizeidirection in dieser Rich¬
tung gleich anfangs einen seltsamen Verstoß, indem sie dem Seidenhändler
Carre, als derselbe eine Anzahl Herren zu einer vorbereitenden Wahlbesprechung
eingeladen hatte, die "Warnung" zugehen ließ, die Nachsicht der Polizei
gegen französische Agitationen könne einmal ein Ende nehmen. Carre ist
geborener Franzose, ohne jedoch optirt zu haben; er hat die Passion, an ge¬
wissen historischen Tagen seine Schaufenster über und über mit schwarzen
Stoffen auszustatten und mit großen Lettern das Wort "venit" darauf zu
verzeichnen; auch ist allgemein bekannt, daß bei den Bezirksrathwahlen das
"Comite Carre" eine sicherlich nicht regierungsfreundliche Thätigkeit ent¬
faltet hat. Dies Alles jedoch gab der Polizei kein Recht zu einem präven¬
tiver Verwarnungsverfahren, welches die französische Opposition nur anreizen
kann, in der öffentlichen Meinung aber den Argwohn erregen muß, daß die
Freiheit der Wahlbewegung durch eine unberechenbare Willkür gefährdet sei.
Man wird hoffen dürfen, daß derartige Schritte während des Verlaufs der
Wahlbewegung von der Verwaltung vermieden werden, so sehr auch gewisse
gute Freunde sie jederzeit zu dergleichen zu ermuntern bereit sind. Diesen
letzteren wäre es sogar ganz recht, wenn man auf die offiziellen Candidatu-
ren des Kaiserreichs zurückgriffe; sie sind der Ansicht, die Bezirkspräsidenten
und Kreisdireetoren (die ehemaligen Präfecten und Unterpräfecten) brauchten
der rathlosen Bevölkerung nur einen Namen zu nennen, um denselben mit
enormer Majorität aus der Urne hervorgehen zu sehen. Abgesehen davon,
daß das Gelingen des Experiments doch keineswegs so gesichert sein dürfte,
muß das öffentliche Gewissen die officiellen Candidaturen in Elsaß-Lothringen
aus ganz denselben Gründen verurtheilen, wie im übrigen Deutschland. Und
diesem Gewissen zuwiderzuhandeln, um die Opposition des Reichstags um
einige Stimmen zu schmälern, wäre, um machiavellistisch zu reden, wahrlich
nicht der Mühe werth. Ueberhaupt sind die elsaß-lothringischen Wahlen für


denken können. Ob die Verhältnisse in Lothringen, namentlich in Metz, wegen
des dort allerdings scharf hervortretenden Gegensatzes der Nationalitäten wesent¬
lich anders liegen, wage ich nicht zu entscheiden. Die dortige „reichsfreundliche
Partei", d. h. die deutsche Einwanderung, soll die Absicht haben, den Grafen
Guido Henckel von Donnersmark aufzustellen. Offen gestanden, ist uns die
Konstituirung der Deutschen in Metz zu einer politischen Partei niemals
als ein sehr zweckmäßiger Schritt erschienen; und auch jetzt, will uns bedünken,
als thäten unsere Landsleute besser daran, ihre Stimme irgend einem gemä¬
ßigten Manne aus der eingeborenen Bevölkerung zu geben. — Wie die Re¬
gierung sich angesichts der Wahlen zu verhalten hat, kann keinen Augenblick
zweifelhaft sein, nämlich lediglich als die Hüterin der Gesetze, ohne eine active
Einmischung in den Gang der Wahlbewegung zu versuchen. Zum größten
Bedauern aller Gemäßigten beging die hiesige Polizeidirection in dieser Rich¬
tung gleich anfangs einen seltsamen Verstoß, indem sie dem Seidenhändler
Carre, als derselbe eine Anzahl Herren zu einer vorbereitenden Wahlbesprechung
eingeladen hatte, die „Warnung" zugehen ließ, die Nachsicht der Polizei
gegen französische Agitationen könne einmal ein Ende nehmen. Carre ist
geborener Franzose, ohne jedoch optirt zu haben; er hat die Passion, an ge¬
wissen historischen Tagen seine Schaufenster über und über mit schwarzen
Stoffen auszustatten und mit großen Lettern das Wort „venit" darauf zu
verzeichnen; auch ist allgemein bekannt, daß bei den Bezirksrathwahlen das
„Comite Carre" eine sicherlich nicht regierungsfreundliche Thätigkeit ent¬
faltet hat. Dies Alles jedoch gab der Polizei kein Recht zu einem präven¬
tiver Verwarnungsverfahren, welches die französische Opposition nur anreizen
kann, in der öffentlichen Meinung aber den Argwohn erregen muß, daß die
Freiheit der Wahlbewegung durch eine unberechenbare Willkür gefährdet sei.
Man wird hoffen dürfen, daß derartige Schritte während des Verlaufs der
Wahlbewegung von der Verwaltung vermieden werden, so sehr auch gewisse
gute Freunde sie jederzeit zu dergleichen zu ermuntern bereit sind. Diesen
letzteren wäre es sogar ganz recht, wenn man auf die offiziellen Candidatu-
ren des Kaiserreichs zurückgriffe; sie sind der Ansicht, die Bezirkspräsidenten
und Kreisdireetoren (die ehemaligen Präfecten und Unterpräfecten) brauchten
der rathlosen Bevölkerung nur einen Namen zu nennen, um denselben mit
enormer Majorität aus der Urne hervorgehen zu sehen. Abgesehen davon,
daß das Gelingen des Experiments doch keineswegs so gesichert sein dürfte,
muß das öffentliche Gewissen die officiellen Candidaturen in Elsaß-Lothringen
aus ganz denselben Gründen verurtheilen, wie im übrigen Deutschland. Und
diesem Gewissen zuwiderzuhandeln, um die Opposition des Reichstags um
einige Stimmen zu schmälern, wäre, um machiavellistisch zu reden, wahrlich
nicht der Mühe werth. Ueberhaupt sind die elsaß-lothringischen Wahlen für


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[0036] denken können. Ob die Verhältnisse in Lothringen, namentlich in Metz, wegen des dort allerdings scharf hervortretenden Gegensatzes der Nationalitäten wesent¬ lich anders liegen, wage ich nicht zu entscheiden. Die dortige „reichsfreundliche Partei", d. h. die deutsche Einwanderung, soll die Absicht haben, den Grafen Guido Henckel von Donnersmark aufzustellen. Offen gestanden, ist uns die Konstituirung der Deutschen in Metz zu einer politischen Partei niemals als ein sehr zweckmäßiger Schritt erschienen; und auch jetzt, will uns bedünken, als thäten unsere Landsleute besser daran, ihre Stimme irgend einem gemä¬ ßigten Manne aus der eingeborenen Bevölkerung zu geben. — Wie die Re¬ gierung sich angesichts der Wahlen zu verhalten hat, kann keinen Augenblick zweifelhaft sein, nämlich lediglich als die Hüterin der Gesetze, ohne eine active Einmischung in den Gang der Wahlbewegung zu versuchen. Zum größten Bedauern aller Gemäßigten beging die hiesige Polizeidirection in dieser Rich¬ tung gleich anfangs einen seltsamen Verstoß, indem sie dem Seidenhändler Carre, als derselbe eine Anzahl Herren zu einer vorbereitenden Wahlbesprechung eingeladen hatte, die „Warnung" zugehen ließ, die Nachsicht der Polizei gegen französische Agitationen könne einmal ein Ende nehmen. Carre ist geborener Franzose, ohne jedoch optirt zu haben; er hat die Passion, an ge¬ wissen historischen Tagen seine Schaufenster über und über mit schwarzen Stoffen auszustatten und mit großen Lettern das Wort „venit" darauf zu verzeichnen; auch ist allgemein bekannt, daß bei den Bezirksrathwahlen das „Comite Carre" eine sicherlich nicht regierungsfreundliche Thätigkeit ent¬ faltet hat. Dies Alles jedoch gab der Polizei kein Recht zu einem präven¬ tiver Verwarnungsverfahren, welches die französische Opposition nur anreizen kann, in der öffentlichen Meinung aber den Argwohn erregen muß, daß die Freiheit der Wahlbewegung durch eine unberechenbare Willkür gefährdet sei. Man wird hoffen dürfen, daß derartige Schritte während des Verlaufs der Wahlbewegung von der Verwaltung vermieden werden, so sehr auch gewisse gute Freunde sie jederzeit zu dergleichen zu ermuntern bereit sind. Diesen letzteren wäre es sogar ganz recht, wenn man auf die offiziellen Candidatu- ren des Kaiserreichs zurückgriffe; sie sind der Ansicht, die Bezirkspräsidenten und Kreisdireetoren (die ehemaligen Präfecten und Unterpräfecten) brauchten der rathlosen Bevölkerung nur einen Namen zu nennen, um denselben mit enormer Majorität aus der Urne hervorgehen zu sehen. Abgesehen davon, daß das Gelingen des Experiments doch keineswegs so gesichert sein dürfte, muß das öffentliche Gewissen die officiellen Candidaturen in Elsaß-Lothringen aus ganz denselben Gründen verurtheilen, wie im übrigen Deutschland. Und diesem Gewissen zuwiderzuhandeln, um die Opposition des Reichstags um einige Stimmen zu schmälern, wäre, um machiavellistisch zu reden, wahrlich nicht der Mühe werth. Ueberhaupt sind die elsaß-lothringischen Wahlen für

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_130643/36>, abgerufen am 23.07.2024.