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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, I. Semester. I. Band.

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Lassen wir nun unsern Blick von dem tanzenden auf das zuschauende
Publikum hinüberstreifen. Im Ganzen genommen setzen sich beide aus den¬
selben Elementen zusammen, nur mit dem Unterschiede, daß das letztere
noch durch ein bedeutendes Kontingent von Neugierigen und Vergnügungs¬
lustigen aller Stände des In- und Auslandes verstärkt wird. Doch nehmen
wir auf der sich um den Saal herumziehenden, erhöhten Balustrade Platz,
um mit Ruhe die an uns vorüberwallenden Neugierigen überschauen und be¬
obachten zu können. Das Schicksal führt uns neben einen mit den obligaten
Bart-Coteletten bekleideten Sohn Albion's, dessen junge Gemahlin, eine an¬
genehme britische Schönheit, soeben die bittenden Worte an ihn richtet: I^t
us M Kons, äsar ^Villiam, worauf John Bull, den Rest seines amerikani¬
schen Grogs ins Jenseits stürzend, sich erhebt und "all ri^ete" murmelnd,
mit seiner blondlockigen Blume des Jnselreichs von dannen zieht. Dem eng¬
lischen Paar eben ausweichend, tritt ein anderes in Scene: ein alter Sünder,
der, mit dem Trauerflor am Hut, an der Seite einer verlockenden Anastia den
Tod seiner verblichenen Ehehälfte zu beklagen scheint; dahinter folgt ein ehr¬
barer Bürger mit seiner heiter dreinschauenden Gattin, dann ein unerfahrener
Provinziale, der staunende Blicke umherwirft; weiter ein Student mit seiner
öwäiante, eine Grisette darauf, die sich leise an einen stürmisch ausschauenden
jungen Republikaner schmiegt; -- und so geht's in buntem Gemisch fort.
Soeben wirft eine kleine "Bürgerliche" ihren Mantel über die Balustrade,
er fällt, und wir fangen ihn auf; mit verbindlichem Lächeln dankend, springt
die Schöne mit einem hageren langhaarigen Jünglinge, vermuthlich einem
Schüler des Plato, in den rauschenden Wirbel der Tänzer; der Vater folgt
als Schutzanwalt, feinere Toiletten tauchen inzwischen am Horizonte auf:
junge Männer aus vornehmer Familie, mit ihren "Illegitimen" am Arme,
beehren die Olosorie ach I^nah; -- ach, und wie sie selbstbewußt in ihren ge¬
schmackvollen Toiletten graziös einherschreiten, diese improvisirten Gattinen,
wie sie mit souveräner Ueberlegenheit auf die an oder doch Zgas winorum ggntium
herabschauen, diese leichtfertigen Schönen. Wir würden geneigt sein, sie ganz
reizend zu finden, wenn ihnen nicht der wahre und zugleich undefinirbare
Hauch einer legitimen Gattin fehlte. Doch halt! . . . Legitim -- illegitim!
-- Bei diesen Worten fährt uns plötzlich ein tiefer, unermeßlich tiefer politi¬
scher Gedanke durch den Kopf. -- Wir greifen konvulsivisch nach der Brief¬
tasche, um ihn sogleich der Mit- und Nachwelt aufzuzeichnen -- doch weh,
-- wir suchen vergeblich; "bis! bis!" schallt es von allen Legitimen und Ille¬
gitimen nach einem wirbelnden Walzer; -- "asses! g-sse?!" rufen wir und
stürzen, mit einem Stadtsergeanten karambolirend, zur Thür hinaus. -- Aber
die Brieftasche bringt uns keiner wieder. --


Gustav Krause.


Lassen wir nun unsern Blick von dem tanzenden auf das zuschauende
Publikum hinüberstreifen. Im Ganzen genommen setzen sich beide aus den¬
selben Elementen zusammen, nur mit dem Unterschiede, daß das letztere
noch durch ein bedeutendes Kontingent von Neugierigen und Vergnügungs¬
lustigen aller Stände des In- und Auslandes verstärkt wird. Doch nehmen
wir auf der sich um den Saal herumziehenden, erhöhten Balustrade Platz,
um mit Ruhe die an uns vorüberwallenden Neugierigen überschauen und be¬
obachten zu können. Das Schicksal führt uns neben einen mit den obligaten
Bart-Coteletten bekleideten Sohn Albion's, dessen junge Gemahlin, eine an¬
genehme britische Schönheit, soeben die bittenden Worte an ihn richtet: I^t
us M Kons, äsar ^Villiam, worauf John Bull, den Rest seines amerikani¬
schen Grogs ins Jenseits stürzend, sich erhebt und „all ri^ete" murmelnd,
mit seiner blondlockigen Blume des Jnselreichs von dannen zieht. Dem eng¬
lischen Paar eben ausweichend, tritt ein anderes in Scene: ein alter Sünder,
der, mit dem Trauerflor am Hut, an der Seite einer verlockenden Anastia den
Tod seiner verblichenen Ehehälfte zu beklagen scheint; dahinter folgt ein ehr¬
barer Bürger mit seiner heiter dreinschauenden Gattin, dann ein unerfahrener
Provinziale, der staunende Blicke umherwirft; weiter ein Student mit seiner
öwäiante, eine Grisette darauf, die sich leise an einen stürmisch ausschauenden
jungen Republikaner schmiegt; — und so geht's in buntem Gemisch fort.
Soeben wirft eine kleine „Bürgerliche" ihren Mantel über die Balustrade,
er fällt, und wir fangen ihn auf; mit verbindlichem Lächeln dankend, springt
die Schöne mit einem hageren langhaarigen Jünglinge, vermuthlich einem
Schüler des Plato, in den rauschenden Wirbel der Tänzer; der Vater folgt
als Schutzanwalt, feinere Toiletten tauchen inzwischen am Horizonte auf:
junge Männer aus vornehmer Familie, mit ihren „Illegitimen" am Arme,
beehren die Olosorie ach I^nah; — ach, und wie sie selbstbewußt in ihren ge¬
schmackvollen Toiletten graziös einherschreiten, diese improvisirten Gattinen,
wie sie mit souveräner Ueberlegenheit auf die an oder doch Zgas winorum ggntium
herabschauen, diese leichtfertigen Schönen. Wir würden geneigt sein, sie ganz
reizend zu finden, wenn ihnen nicht der wahre und zugleich undefinirbare
Hauch einer legitimen Gattin fehlte. Doch halt! . . . Legitim — illegitim!
— Bei diesen Worten fährt uns plötzlich ein tiefer, unermeßlich tiefer politi¬
scher Gedanke durch den Kopf. — Wir greifen konvulsivisch nach der Brief¬
tasche, um ihn sogleich der Mit- und Nachwelt aufzuzeichnen — doch weh,
— wir suchen vergeblich; „bis! bis!" schallt es von allen Legitimen und Ille¬
gitimen nach einem wirbelnden Walzer; — „asses! g-sse?!" rufen wir und
stürzen, mit einem Stadtsergeanten karambolirend, zur Thür hinaus. — Aber
die Brieftasche bringt uns keiner wieder. —


Gustav Krause.


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[0356] Lassen wir nun unsern Blick von dem tanzenden auf das zuschauende Publikum hinüberstreifen. Im Ganzen genommen setzen sich beide aus den¬ selben Elementen zusammen, nur mit dem Unterschiede, daß das letztere noch durch ein bedeutendes Kontingent von Neugierigen und Vergnügungs¬ lustigen aller Stände des In- und Auslandes verstärkt wird. Doch nehmen wir auf der sich um den Saal herumziehenden, erhöhten Balustrade Platz, um mit Ruhe die an uns vorüberwallenden Neugierigen überschauen und be¬ obachten zu können. Das Schicksal führt uns neben einen mit den obligaten Bart-Coteletten bekleideten Sohn Albion's, dessen junge Gemahlin, eine an¬ genehme britische Schönheit, soeben die bittenden Worte an ihn richtet: I^t us M Kons, äsar ^Villiam, worauf John Bull, den Rest seines amerikani¬ schen Grogs ins Jenseits stürzend, sich erhebt und „all ri^ete" murmelnd, mit seiner blondlockigen Blume des Jnselreichs von dannen zieht. Dem eng¬ lischen Paar eben ausweichend, tritt ein anderes in Scene: ein alter Sünder, der, mit dem Trauerflor am Hut, an der Seite einer verlockenden Anastia den Tod seiner verblichenen Ehehälfte zu beklagen scheint; dahinter folgt ein ehr¬ barer Bürger mit seiner heiter dreinschauenden Gattin, dann ein unerfahrener Provinziale, der staunende Blicke umherwirft; weiter ein Student mit seiner öwäiante, eine Grisette darauf, die sich leise an einen stürmisch ausschauenden jungen Republikaner schmiegt; — und so geht's in buntem Gemisch fort. Soeben wirft eine kleine „Bürgerliche" ihren Mantel über die Balustrade, er fällt, und wir fangen ihn auf; mit verbindlichem Lächeln dankend, springt die Schöne mit einem hageren langhaarigen Jünglinge, vermuthlich einem Schüler des Plato, in den rauschenden Wirbel der Tänzer; der Vater folgt als Schutzanwalt, feinere Toiletten tauchen inzwischen am Horizonte auf: junge Männer aus vornehmer Familie, mit ihren „Illegitimen" am Arme, beehren die Olosorie ach I^nah; — ach, und wie sie selbstbewußt in ihren ge¬ schmackvollen Toiletten graziös einherschreiten, diese improvisirten Gattinen, wie sie mit souveräner Ueberlegenheit auf die an oder doch Zgas winorum ggntium herabschauen, diese leichtfertigen Schönen. Wir würden geneigt sein, sie ganz reizend zu finden, wenn ihnen nicht der wahre und zugleich undefinirbare Hauch einer legitimen Gattin fehlte. Doch halt! . . . Legitim — illegitim! — Bei diesen Worten fährt uns plötzlich ein tiefer, unermeßlich tiefer politi¬ scher Gedanke durch den Kopf. — Wir greifen konvulsivisch nach der Brief¬ tasche, um ihn sogleich der Mit- und Nachwelt aufzuzeichnen — doch weh, — wir suchen vergeblich; „bis! bis!" schallt es von allen Legitimen und Ille¬ gitimen nach einem wirbelnden Walzer; — „asses! g-sse?!" rufen wir und stürzen, mit einem Stadtsergeanten karambolirend, zur Thür hinaus. — Aber die Brieftasche bringt uns keiner wieder. — Gustav Krause.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_130643/356>, abgerufen am 25.12.2024.