Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, I. Semester. I. Band."ökonomische Julian" war ein Schlagwort, durch das man Schulze's Es ist ein großes Mißverständniß, wenn man glaubt, daß die Freiheit Es wird sich schwerlich ein Wort auffinden lassen, das so viele und so Es soll durchaus nicht unerwähnt bleiben, daß auch viele von den social¬ „ökonomische Julian" war ein Schlagwort, durch das man Schulze's Es ist ein großes Mißverständniß, wenn man glaubt, daß die Freiheit Es wird sich schwerlich ein Wort auffinden lassen, das so viele und so Es soll durchaus nicht unerwähnt bleiben, daß auch viele von den social¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0346" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/130990"/> <p xml:id="ID_1029" prev="#ID_1028"> „ökonomische Julian" war ein Schlagwort, durch das man Schulze's<lb/> ganze Bemühungen vernichten zu können glaubte, wenn man es recht ver¬<lb/> ächtlich und achselzuckend ausspreche. Der Herr „Patrimonialrichter", wie<lb/> Schulze sehr oft von Lassalle genannt wurde, hat seiner Sache aber doch<lb/> männlich und unermüdlich vorgestanden und sein Werk ein gutes Stück ge¬<lb/> fördert.</p><lb/> <p xml:id="ID_1030"> Es ist ein großes Mißverständniß, wenn man glaubt, daß die Freiheit<lb/> ein unverlierbares und unzweifelhaftes Besitzthum der Menschennatur sei.<lb/> Das Wort Freiheit drückt eine Forderung, ein Bestreben aus, aber durchaus<lb/> kein selbstverständliches Attribut der Gattung Iromo bipvs.</p><lb/> <p xml:id="ID_1031"> Es wird sich schwerlich ein Wort auffinden lassen, das so viele und so<lb/> verschiedene Deutungen erfahren hat, wie das Wort Freiheit. Philosophen,<lb/> Politiker und Demagogen — Conservative, Liberale und Ultramontane:<lb/> die Vertreter der heterogensten Parteien führen es im Munde und doch<lb/> denkt sich Jeder etwas anderes dabei. Denken ist eigentlich nicht die richtige<lb/> Bezeichnung für den Zustand, in dem sich diejenigen befinden, die das Wort<lb/> Freiheit sehr oft und sehr nachdrücklich in die Welt posaunen. Denn fast<lb/> immer zeigen die Forderungen, die im Namen der Freiheit aufgestellt werden,<lb/> (vor Allem und vorzüglich diejenigen der socialistischen Partei), einen viel zu<lb/> extravaganten Charakter, als daß sie als die Resultate eines nüchternen Denk-<lb/> proeesses betrachtet werden könnten. Keine andere Partei treibt so consequent<lb/> Gefühlspolitik wie die socialdemokratische: weil sie die weniger gebildeten<lb/> Volksmassen hinter sich hat. Keine andere Partei behauptet aber nachdrück¬<lb/> licher als die eben genannte, daß nur bei ihr die wahrhafte und echte Real¬<lb/> politik zu finden sei. Das ist auch einer von den vielfachen Widersprüchen<lb/> zwischen Theorie und Praxis, wie sie das politische Parteileben oft aufzu¬<lb/> weisen hat. Ein Politiker kann sich nicht oft genug klar machen, was eigentlich<lb/> Freiheit ist; ebenso wie ein Physiolog nicht aufmerksam genug die Erschei¬<lb/> nungen am gesunden Körper studiren kann. Es leuchtet augenblicklich ein,<lb/> daß die Freiheit eine Art Gleichgewichtszustand zwischen den Tendenzen der<lb/> verschiedenen Gesellschaftsklassen ist — und daß die Aufgabe des leitenden<lb/> Staatsmannes darin besteht, dieses Gleichgewicht zu erhalten: die löblichste<lb/> Tendenz, wenn sie das Gleichgewicht zu stören droht, muß daher so lange<lb/> Tendenz bleiben, bis ihre Realisirung nur mit geringen Erschütterungen der<lb/> bestehenden Zustände geschehen kann. Das ist die ganze Staatsweisheit in<lb/> unes. Wie schwer natürlich für den speciellen Fall dergleichen einfache Weis¬<lb/> heit in Anwendung zu bringen ist, lehren uns die Schicksale der Staats¬<lb/> männer und der Staaten zur Genüge.</p><lb/> <p xml:id="ID_1032" next="#ID_1033"> Es soll durchaus nicht unerwähnt bleiben, daß auch viele von den social¬<lb/> demokratischen Tendenzen zu den löblichen gehören. Auch andere Parteien</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0346]
„ökonomische Julian" war ein Schlagwort, durch das man Schulze's
ganze Bemühungen vernichten zu können glaubte, wenn man es recht ver¬
ächtlich und achselzuckend ausspreche. Der Herr „Patrimonialrichter", wie
Schulze sehr oft von Lassalle genannt wurde, hat seiner Sache aber doch
männlich und unermüdlich vorgestanden und sein Werk ein gutes Stück ge¬
fördert.
Es ist ein großes Mißverständniß, wenn man glaubt, daß die Freiheit
ein unverlierbares und unzweifelhaftes Besitzthum der Menschennatur sei.
Das Wort Freiheit drückt eine Forderung, ein Bestreben aus, aber durchaus
kein selbstverständliches Attribut der Gattung Iromo bipvs.
Es wird sich schwerlich ein Wort auffinden lassen, das so viele und so
verschiedene Deutungen erfahren hat, wie das Wort Freiheit. Philosophen,
Politiker und Demagogen — Conservative, Liberale und Ultramontane:
die Vertreter der heterogensten Parteien führen es im Munde und doch
denkt sich Jeder etwas anderes dabei. Denken ist eigentlich nicht die richtige
Bezeichnung für den Zustand, in dem sich diejenigen befinden, die das Wort
Freiheit sehr oft und sehr nachdrücklich in die Welt posaunen. Denn fast
immer zeigen die Forderungen, die im Namen der Freiheit aufgestellt werden,
(vor Allem und vorzüglich diejenigen der socialistischen Partei), einen viel zu
extravaganten Charakter, als daß sie als die Resultate eines nüchternen Denk-
proeesses betrachtet werden könnten. Keine andere Partei treibt so consequent
Gefühlspolitik wie die socialdemokratische: weil sie die weniger gebildeten
Volksmassen hinter sich hat. Keine andere Partei behauptet aber nachdrück¬
licher als die eben genannte, daß nur bei ihr die wahrhafte und echte Real¬
politik zu finden sei. Das ist auch einer von den vielfachen Widersprüchen
zwischen Theorie und Praxis, wie sie das politische Parteileben oft aufzu¬
weisen hat. Ein Politiker kann sich nicht oft genug klar machen, was eigentlich
Freiheit ist; ebenso wie ein Physiolog nicht aufmerksam genug die Erschei¬
nungen am gesunden Körper studiren kann. Es leuchtet augenblicklich ein,
daß die Freiheit eine Art Gleichgewichtszustand zwischen den Tendenzen der
verschiedenen Gesellschaftsklassen ist — und daß die Aufgabe des leitenden
Staatsmannes darin besteht, dieses Gleichgewicht zu erhalten: die löblichste
Tendenz, wenn sie das Gleichgewicht zu stören droht, muß daher so lange
Tendenz bleiben, bis ihre Realisirung nur mit geringen Erschütterungen der
bestehenden Zustände geschehen kann. Das ist die ganze Staatsweisheit in
unes. Wie schwer natürlich für den speciellen Fall dergleichen einfache Weis¬
heit in Anwendung zu bringen ist, lehren uns die Schicksale der Staats¬
männer und der Staaten zur Genüge.
Es soll durchaus nicht unerwähnt bleiben, daß auch viele von den social¬
demokratischen Tendenzen zu den löblichen gehören. Auch andere Parteien
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