Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Loose; Unzufriedenheit mit den bestehenden Staatseinrichtungen und Ge¬
setzen; Unzufriedenheit mit der ganzen Welt -- Nihilismus.

Lass alle hat sich bemüht, es dem Arbeiter so tief als möglich einzu¬
prägen: daß die durchschnittliche Lohnhöhe immer nur ausreiche, den noth¬
wendigen Lebensunterhalt zu erwerben, der in einem Volke gewohnheitsmäßig
zur Fristung der Existenz und der Fortpflanzung erforderlich ist. Er behaup¬
tete, daß der wirkliche Tagelohn nur in Pendelschwingungen um diese Norm
herum gravitire, ohne jemals lange weder über denselben sich erheben, noch
unter denselben herabsinken zu können. Diese, nach seiner Meinung unwider-
sprechliche Wahrheit, nannte er das eherne Lohngesetz. Mit Aufstellung
dieses Gesetzes war der Unternehmergewinn indirekt als eine schreiende Un¬
gerechtigkeit proklamirt werden, als ein Raub an dem Arbeiter. Lassalle wies
mit dem Finger ganz genau auf die Stelle hin, wo sich der Druck des Capi¬
tals dem Arbeiter am allerempfindlichsten fühlbar mache. Die Procente des
Unternehmergewinns schienen die Schmach und die Unfreiheit des Arbeiters
sonnenklar zu dokumentiren.

Die Massen geriethen in die furchtbarste Aufregung. Die Losung war:
Exemtion von diesem schrecklichen Lohngesetze. Lassalle gab selbst
das Mittel an zur Linderung des bestehenden Uebels. Eine Creditoperation
von Staatswegen sollte die Mittel zur Organisation von Productivgenossen-
schaften liefern. Der Arbeiter sollte sein eigener Unternehmer werden und
sollte natürlich auch die Procente des verhaßten Unternehmergewinnes ein¬
streichen. Eine Zeit lang war die Productivgenvsstnschaft das Ideal der
freiheitlichen Organisation des Arbeiterstaates. Eine Zeit lang -- so lange
nämlich bis man einsah, daß Productivgenossenschaft zwar ein sehr leicht aus¬
zusprechendes Wort sei -- daß aber die wirkliche Sache, die practische Or¬
ganisation einer solchen Genossenschaft ganz unüberwindliche Schwierigkeiten
darbiete. Das Ideal erwies sich als ein Irrthum -- denn die Unausführ-
barkeit desselben wurde auf Schritt und Tritt offenbar.

Der Staat konnte doch so ohne Weiteres nicht zu einem Credite bewogen
werden. Der Staat zeigte bei näherer Prüfung überhaupt die merkwürdige
Eigenschaft, daß er wirklich existirte -- man fand, daß er nickt bloß ein
Wort, ein Phantom sei. das nur in den Zeitungen herumspuke. Diese Wahr¬
nehmung wirkte etwas ernüchternd und der allgemeine Freiheitsrausch verflog
einigermaßen. Auch die buchstäblichsten Lassalleaner wurden etwas zeitgemäßer,
das heißt, ste legten den Maaßstab des Menschenmöglichen an die Lassalle'schen
Pläne und fanden, daß dieselben fürs erste unausführbar seien.

Schulze-Delitzsch hatte dagegen schon die besten Erfolge durch sein
System erzielt, und trotzdem blieb der langsame, sichere Weg des Sparens
und der gemeinschaftlichen Materialankäufe den Lassalleanern verhaßt. Der


Loose; Unzufriedenheit mit den bestehenden Staatseinrichtungen und Ge¬
setzen; Unzufriedenheit mit der ganzen Welt — Nihilismus.

Lass alle hat sich bemüht, es dem Arbeiter so tief als möglich einzu¬
prägen: daß die durchschnittliche Lohnhöhe immer nur ausreiche, den noth¬
wendigen Lebensunterhalt zu erwerben, der in einem Volke gewohnheitsmäßig
zur Fristung der Existenz und der Fortpflanzung erforderlich ist. Er behaup¬
tete, daß der wirkliche Tagelohn nur in Pendelschwingungen um diese Norm
herum gravitire, ohne jemals lange weder über denselben sich erheben, noch
unter denselben herabsinken zu können. Diese, nach seiner Meinung unwider-
sprechliche Wahrheit, nannte er das eherne Lohngesetz. Mit Aufstellung
dieses Gesetzes war der Unternehmergewinn indirekt als eine schreiende Un¬
gerechtigkeit proklamirt werden, als ein Raub an dem Arbeiter. Lassalle wies
mit dem Finger ganz genau auf die Stelle hin, wo sich der Druck des Capi¬
tals dem Arbeiter am allerempfindlichsten fühlbar mache. Die Procente des
Unternehmergewinns schienen die Schmach und die Unfreiheit des Arbeiters
sonnenklar zu dokumentiren.

Die Massen geriethen in die furchtbarste Aufregung. Die Losung war:
Exemtion von diesem schrecklichen Lohngesetze. Lassalle gab selbst
das Mittel an zur Linderung des bestehenden Uebels. Eine Creditoperation
von Staatswegen sollte die Mittel zur Organisation von Productivgenossen-
schaften liefern. Der Arbeiter sollte sein eigener Unternehmer werden und
sollte natürlich auch die Procente des verhaßten Unternehmergewinnes ein¬
streichen. Eine Zeit lang war die Productivgenvsstnschaft das Ideal der
freiheitlichen Organisation des Arbeiterstaates. Eine Zeit lang — so lange
nämlich bis man einsah, daß Productivgenossenschaft zwar ein sehr leicht aus¬
zusprechendes Wort sei — daß aber die wirkliche Sache, die practische Or¬
ganisation einer solchen Genossenschaft ganz unüberwindliche Schwierigkeiten
darbiete. Das Ideal erwies sich als ein Irrthum — denn die Unausführ-
barkeit desselben wurde auf Schritt und Tritt offenbar.

Der Staat konnte doch so ohne Weiteres nicht zu einem Credite bewogen
werden. Der Staat zeigte bei näherer Prüfung überhaupt die merkwürdige
Eigenschaft, daß er wirklich existirte — man fand, daß er nickt bloß ein
Wort, ein Phantom sei. das nur in den Zeitungen herumspuke. Diese Wahr¬
nehmung wirkte etwas ernüchternd und der allgemeine Freiheitsrausch verflog
einigermaßen. Auch die buchstäblichsten Lassalleaner wurden etwas zeitgemäßer,
das heißt, ste legten den Maaßstab des Menschenmöglichen an die Lassalle'schen
Pläne und fanden, daß dieselben fürs erste unausführbar seien.

Schulze-Delitzsch hatte dagegen schon die besten Erfolge durch sein
System erzielt, und trotzdem blieb der langsame, sichere Weg des Sparens
und der gemeinschaftlichen Materialankäufe den Lassalleanern verhaßt. Der


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0345" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/130989"/>
          <p xml:id="ID_1024" prev="#ID_1023"> Loose; Unzufriedenheit mit den bestehenden Staatseinrichtungen und Ge¬<lb/>
setzen; Unzufriedenheit mit der ganzen Welt &#x2014; Nihilismus.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1025"> Lass alle hat sich bemüht, es dem Arbeiter so tief als möglich einzu¬<lb/>
prägen: daß die durchschnittliche Lohnhöhe immer nur ausreiche, den noth¬<lb/>
wendigen Lebensunterhalt zu erwerben, der in einem Volke gewohnheitsmäßig<lb/>
zur Fristung der Existenz und der Fortpflanzung erforderlich ist. Er behaup¬<lb/>
tete, daß der wirkliche Tagelohn nur in Pendelschwingungen um diese Norm<lb/>
herum gravitire, ohne jemals lange weder über denselben sich erheben, noch<lb/>
unter denselben herabsinken zu können. Diese, nach seiner Meinung unwider-<lb/>
sprechliche Wahrheit, nannte er das eherne Lohngesetz. Mit Aufstellung<lb/>
dieses Gesetzes war der Unternehmergewinn indirekt als eine schreiende Un¬<lb/>
gerechtigkeit proklamirt werden, als ein Raub an dem Arbeiter. Lassalle wies<lb/>
mit dem Finger ganz genau auf die Stelle hin, wo sich der Druck des Capi¬<lb/>
tals dem Arbeiter am allerempfindlichsten fühlbar mache. Die Procente des<lb/>
Unternehmergewinns schienen die Schmach und die Unfreiheit des Arbeiters<lb/>
sonnenklar zu dokumentiren.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1026"> Die Massen geriethen in die furchtbarste Aufregung. Die Losung war:<lb/>
Exemtion von diesem schrecklichen Lohngesetze. Lassalle gab selbst<lb/>
das Mittel an zur Linderung des bestehenden Uebels. Eine Creditoperation<lb/>
von Staatswegen sollte die Mittel zur Organisation von Productivgenossen-<lb/>
schaften liefern. Der Arbeiter sollte sein eigener Unternehmer werden und<lb/>
sollte natürlich auch die Procente des verhaßten Unternehmergewinnes ein¬<lb/>
streichen. Eine Zeit lang war die Productivgenvsstnschaft das Ideal der<lb/>
freiheitlichen Organisation des Arbeiterstaates. Eine Zeit lang &#x2014; so lange<lb/>
nämlich bis man einsah, daß Productivgenossenschaft zwar ein sehr leicht aus¬<lb/>
zusprechendes Wort sei &#x2014; daß aber die wirkliche Sache, die practische Or¬<lb/>
ganisation einer solchen Genossenschaft ganz unüberwindliche Schwierigkeiten<lb/>
darbiete. Das Ideal erwies sich als ein Irrthum &#x2014; denn die Unausführ-<lb/>
barkeit desselben wurde auf Schritt und Tritt offenbar.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1027"> Der Staat konnte doch so ohne Weiteres nicht zu einem Credite bewogen<lb/>
werden. Der Staat zeigte bei näherer Prüfung überhaupt die merkwürdige<lb/>
Eigenschaft, daß er wirklich existirte &#x2014; man fand, daß er nickt bloß ein<lb/>
Wort, ein Phantom sei. das nur in den Zeitungen herumspuke. Diese Wahr¬<lb/>
nehmung wirkte etwas ernüchternd und der allgemeine Freiheitsrausch verflog<lb/>
einigermaßen. Auch die buchstäblichsten Lassalleaner wurden etwas zeitgemäßer,<lb/>
das heißt, ste legten den Maaßstab des Menschenmöglichen an die Lassalle'schen<lb/>
Pläne und fanden, daß dieselben fürs erste unausführbar seien.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1028" next="#ID_1029"> Schulze-Delitzsch hatte dagegen schon die besten Erfolge durch sein<lb/>
System erzielt, und trotzdem blieb der langsame, sichere Weg des Sparens<lb/>
und der gemeinschaftlichen Materialankäufe den Lassalleanern verhaßt. Der</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0345] Loose; Unzufriedenheit mit den bestehenden Staatseinrichtungen und Ge¬ setzen; Unzufriedenheit mit der ganzen Welt — Nihilismus. Lass alle hat sich bemüht, es dem Arbeiter so tief als möglich einzu¬ prägen: daß die durchschnittliche Lohnhöhe immer nur ausreiche, den noth¬ wendigen Lebensunterhalt zu erwerben, der in einem Volke gewohnheitsmäßig zur Fristung der Existenz und der Fortpflanzung erforderlich ist. Er behaup¬ tete, daß der wirkliche Tagelohn nur in Pendelschwingungen um diese Norm herum gravitire, ohne jemals lange weder über denselben sich erheben, noch unter denselben herabsinken zu können. Diese, nach seiner Meinung unwider- sprechliche Wahrheit, nannte er das eherne Lohngesetz. Mit Aufstellung dieses Gesetzes war der Unternehmergewinn indirekt als eine schreiende Un¬ gerechtigkeit proklamirt werden, als ein Raub an dem Arbeiter. Lassalle wies mit dem Finger ganz genau auf die Stelle hin, wo sich der Druck des Capi¬ tals dem Arbeiter am allerempfindlichsten fühlbar mache. Die Procente des Unternehmergewinns schienen die Schmach und die Unfreiheit des Arbeiters sonnenklar zu dokumentiren. Die Massen geriethen in die furchtbarste Aufregung. Die Losung war: Exemtion von diesem schrecklichen Lohngesetze. Lassalle gab selbst das Mittel an zur Linderung des bestehenden Uebels. Eine Creditoperation von Staatswegen sollte die Mittel zur Organisation von Productivgenossen- schaften liefern. Der Arbeiter sollte sein eigener Unternehmer werden und sollte natürlich auch die Procente des verhaßten Unternehmergewinnes ein¬ streichen. Eine Zeit lang war die Productivgenvsstnschaft das Ideal der freiheitlichen Organisation des Arbeiterstaates. Eine Zeit lang — so lange nämlich bis man einsah, daß Productivgenossenschaft zwar ein sehr leicht aus¬ zusprechendes Wort sei — daß aber die wirkliche Sache, die practische Or¬ ganisation einer solchen Genossenschaft ganz unüberwindliche Schwierigkeiten darbiete. Das Ideal erwies sich als ein Irrthum — denn die Unausführ- barkeit desselben wurde auf Schritt und Tritt offenbar. Der Staat konnte doch so ohne Weiteres nicht zu einem Credite bewogen werden. Der Staat zeigte bei näherer Prüfung überhaupt die merkwürdige Eigenschaft, daß er wirklich existirte — man fand, daß er nickt bloß ein Wort, ein Phantom sei. das nur in den Zeitungen herumspuke. Diese Wahr¬ nehmung wirkte etwas ernüchternd und der allgemeine Freiheitsrausch verflog einigermaßen. Auch die buchstäblichsten Lassalleaner wurden etwas zeitgemäßer, das heißt, ste legten den Maaßstab des Menschenmöglichen an die Lassalle'schen Pläne und fanden, daß dieselben fürs erste unausführbar seien. Schulze-Delitzsch hatte dagegen schon die besten Erfolge durch sein System erzielt, und trotzdem blieb der langsame, sichere Weg des Sparens und der gemeinschaftlichen Materialankäufe den Lassalleanern verhaßt. Der

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_130643
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_130643/345
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_130643/345>, abgerufen am 26.12.2024.