Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, I. Semester. I. Band.noch höher gesteigerte Genußsucht. Man sieht, den aus solchen Ursachen ent¬ Ja wohl, wir stehen am Ende eines Jahres, das uns das sociale Pro¬ Aus dem Aeichslande. Abermals stehen wir an einem bedeutsamen Wendepunkte: mit dem 1. noch höher gesteigerte Genußsucht. Man sieht, den aus solchen Ursachen ent¬ Ja wohl, wir stehen am Ende eines Jahres, das uns das sociale Pro¬ Aus dem Aeichslande. Abermals stehen wir an einem bedeutsamen Wendepunkte: mit dem 1. <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0033" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/130677"/> <p xml:id="ID_72" prev="#ID_71"> noch höher gesteigerte Genußsucht. Man sieht, den aus solchen Ursachen ent¬<lb/> springenden Uebeln wird nicht im Handumdrehen abzuhelfen sein. Nur Ver¬<lb/> breitung wahrer Volksbildung und Vertiefung der Sittlichkeit sind Mittel,<lb/> welche eine wesentliche Wirkung versprechen. Leider wird die Arbeit in dieser<lb/> Richtung von den gebildeten Klassen noch längst nicht allgemein genug und<lb/> nicht ernst genug betrieben. Dagegen frißt das Gift der gesellschaftzerstören¬<lb/> den Theorie in steigendem Maße um sich. Etwas Betrübenderes, als die<lb/> neulich hier in Berlin abgehaltene „öffentliche Arbeiter-Frauen- und Mädchen-<lb/> Versammlung" ist nicht zu denken. Auf der Bühne würde es vielleicht noch<lb/> von einigermaßen komischer Wirkung sein, wenn die „Präsidentin" Hahn mit<lb/> in die Seite gestemmten Armen und blitzenden Augen eine dictatorische Ge¬<lb/> schäftsordnung handhabt, wenn Frau Stegemann im Idiom des Fischweibes<lb/> die Grundsätze der weiblichen Socialdemokratie auseinandersetzt, wenn die<lb/> gläubige Gemeinde, Bier trinkend, in einzelnen Exemplaren auch Strümpfe<lb/> strickend oder Cigarren rauchend, zu Füßen der Prophetinnen sitzt und zum<lb/> Schluß die Marseillaise anstimme — in der Wirklichkeit aber muß Einem<lb/> das Herz bluten bei dem Anblick, wie das Zartgefühl, von Natur das schöne<lb/> Vorrecht auch des gewöhnlichsten Weibes, so gewaltsam erstickt wird.</p><lb/> <p xml:id="ID_73"> Ja wohl, wir stehen am Ende eines Jahres, das uns das sociale Pro¬<lb/> blem der Zukunft in weit düsterer Gestalt gezeigt hat, als wir es uns früher<lb/> vorgestellt. Zugleich wüthet der unabsehbare Kampf zwischen Staat und<lb/> Kirche. Um unter dieser Last nicht zu erliegen, um den auf beiden Seiten<lb/> erwachsenden Aufgaben auf die Dauer gerecht zu werden, wird das deutsche<lb/> Volk eine noch größere sittliche Stärke bethätigen müssen, als während des<lb/> Krieges mit Frankreich. Wahrlich, es thut dringend noth, daß jeder denkende<lb/> Mann sich an der Jahreswende mit dem ganzen Ernst der Lage des Vater¬<lb/> l<note type="byline"> X- x-</note> andes erfülle! </p><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> </div> <div n="1"> <head> Aus dem Aeichslande.</head><lb/> <p xml:id="ID_74" next="#ID_75"> Abermals stehen wir an einem bedeutsamen Wendepunkte: mit dem 1.<lb/> Januar 1874 tritt die Verfassung des deutschen Reichs in Elsaß-Lothringen<lb/> voll und ganz in Wirksamkeit. In der französischen und theilweise auch in<lb/> der deutschen Presse wird in jüngster Zeit die Ansicht verbreitet, als ob da¬<lb/> durch die politische Lage des Reichslandes kaum wesentlich geändert werde;</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0033]
noch höher gesteigerte Genußsucht. Man sieht, den aus solchen Ursachen ent¬
springenden Uebeln wird nicht im Handumdrehen abzuhelfen sein. Nur Ver¬
breitung wahrer Volksbildung und Vertiefung der Sittlichkeit sind Mittel,
welche eine wesentliche Wirkung versprechen. Leider wird die Arbeit in dieser
Richtung von den gebildeten Klassen noch längst nicht allgemein genug und
nicht ernst genug betrieben. Dagegen frißt das Gift der gesellschaftzerstören¬
den Theorie in steigendem Maße um sich. Etwas Betrübenderes, als die
neulich hier in Berlin abgehaltene „öffentliche Arbeiter-Frauen- und Mädchen-
Versammlung" ist nicht zu denken. Auf der Bühne würde es vielleicht noch
von einigermaßen komischer Wirkung sein, wenn die „Präsidentin" Hahn mit
in die Seite gestemmten Armen und blitzenden Augen eine dictatorische Ge¬
schäftsordnung handhabt, wenn Frau Stegemann im Idiom des Fischweibes
die Grundsätze der weiblichen Socialdemokratie auseinandersetzt, wenn die
gläubige Gemeinde, Bier trinkend, in einzelnen Exemplaren auch Strümpfe
strickend oder Cigarren rauchend, zu Füßen der Prophetinnen sitzt und zum
Schluß die Marseillaise anstimme — in der Wirklichkeit aber muß Einem
das Herz bluten bei dem Anblick, wie das Zartgefühl, von Natur das schöne
Vorrecht auch des gewöhnlichsten Weibes, so gewaltsam erstickt wird.
Ja wohl, wir stehen am Ende eines Jahres, das uns das sociale Pro¬
blem der Zukunft in weit düsterer Gestalt gezeigt hat, als wir es uns früher
vorgestellt. Zugleich wüthet der unabsehbare Kampf zwischen Staat und
Kirche. Um unter dieser Last nicht zu erliegen, um den auf beiden Seiten
erwachsenden Aufgaben auf die Dauer gerecht zu werden, wird das deutsche
Volk eine noch größere sittliche Stärke bethätigen müssen, als während des
Krieges mit Frankreich. Wahrlich, es thut dringend noth, daß jeder denkende
Mann sich an der Jahreswende mit dem ganzen Ernst der Lage des Vater¬
l X- x- andes erfülle!
Aus dem Aeichslande.
Abermals stehen wir an einem bedeutsamen Wendepunkte: mit dem 1.
Januar 1874 tritt die Verfassung des deutschen Reichs in Elsaß-Lothringen
voll und ganz in Wirksamkeit. In der französischen und theilweise auch in
der deutschen Presse wird in jüngster Zeit die Ansicht verbreitet, als ob da¬
durch die politische Lage des Reichslandes kaum wesentlich geändert werde;
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