Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, I. Semester. I. Band.langen Reihe von Novitäten beschenkt, am gestrigen Abend allein mit min¬ langen Reihe von Novitäten beschenkt, am gestrigen Abend allein mit min¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0324" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/130968"/> <p xml:id="ID_977" prev="#ID_976" next="#ID_978"> langen Reihe von Novitäten beschenkt, am gestrigen Abend allein mit min¬<lb/> destens fünf oder sechs. Und nun sage noch Einer, daß der kastalische Quell<lb/> des deutschen Parnasses versiegt sei! Ja wenn nur diese Stücke und Stückchen<lb/> allesammt aus dem heiligen Börne der Musen geschöpft wären! Nur zu oft<lb/> fließt kein Tropfen daraus in ihren Adern! Und wie selten entstammen sie<lb/> wirklich dem deutschen Parnaß! Dabei fällt mir eine Schuld ein. die ich<lb/> abzutragen habe, ich meine das vor einem Monat versprochene Urtheil über<lb/> die Leistungen unseres gegenwärtigen französischen Theaters. Man kann<lb/> nicht sagen, daß die Berliner Presse sehr gut auf dieselben zu sprechen wäre.<lb/> In der That ist es Herrn Luguet nicht gelungen, hat ihm auch unter den<lb/> bekannten obwaltenden Umständen nicht gelingen können, durchweg so<lb/> tüchtige Kräfte mit nach Berlin zu bringen, wie man es vor dem Kriege von<lb/> ihm gewöhnt war. Dennoch ist es sehr übertrieben, wenn ein großes hiesiges<lb/> Blatt von Leistungen gesprochen hat, wie wir sie hier auf Bühnen dritten<lb/> Ranges besser zu sehen gewöhnt seien, und von Schauspielern, die aus der<lb/> Hefe des Volkes aufgelesen zu sein scheinen. Sollen derartige Hyperbeln etwa<lb/> Patriotismus sein? Wahr ist, die männlichen Rollen sind im Fach der<lb/> jugendlichen Liebhaber sehr ungenügend besetzt, im Uebrigen aber zählt die<lb/> Gesellschaft lauter ihren Aufgaben gewachsene Kräfte, darunter zwei bis drei,<lb/> wie sie die tgi. Hofbühne kaum ebenbürtig, jedenfalls nicht besser aufzuweisen<lb/> hat. Dazu übt die Truppe die den Franzosen eigene Tugend lebendigen<lb/> Dialogs und vollendeten Zusammenspiels in einem Maaße, wie es von keiner<lb/> hiesigen Bühne erreicht wird. Auch an Fleiß hat sie es nicht fehlen lassen;<lb/> jede Woche brachte sie ein oder gar mehrere neue Stücke. Eine sehr hervor¬<lb/> ragende Leistung gab der Director Luguet selbst in der Titelrolle von Balzac's<lb/> „Mercadet". Das Stück ist weniger ein Drama, als eine überaus geistvolle<lb/> und wahre psychologische Studie; es schildert alle die verzweifelten Manipu¬<lb/> lationen, mit denen ein am Rande des Abgrunds schwebender Gründer sich<lb/> und die Seinen zu halten sucht — ein Stück, vor einem Menschenalter ver¬<lb/> faßt und doch wie aus der unmittelbarsten Gegenwart herausgegriffen. Ihren<lb/> größten Erfolg aber hat die Truppe mit ihrer gestrigen Vorführung von des<lb/> jüngeren Dumas „1.0 äemi-monäo" erzielt. Das Stück ist meines Wissens in<lb/> deutscher Übertragung bisher nicht aufgeführt worden; schwerlich würden<lb/> auch deutsche Schauspieler zu einer vollwerthigen Wiedergabe im Stande sein.<lb/> Was die Franzosen als „<Zomi-moral;" bezeichnen, jene mit erborgten Glänze<lb/> übertünchte Klasse weiblicher Wesen, welche, ehemals Frauen von Stand, die<lb/> Schranken der Convention durchbrochen und sich dem Genusse voller Eman¬<lb/> cipation ergeben haben, oder welche, durch ein besonderes Maaß von Geist<lb/> und Liebreiz begünstigt, als Hochstaplerinnen von niedriger Stufe bis zu der<lb/> Höhe einer Quasiartstokratie emporgestiegen sind — ist bei uns doch glücklicher-</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0324]
langen Reihe von Novitäten beschenkt, am gestrigen Abend allein mit min¬
destens fünf oder sechs. Und nun sage noch Einer, daß der kastalische Quell
des deutschen Parnasses versiegt sei! Ja wenn nur diese Stücke und Stückchen
allesammt aus dem heiligen Börne der Musen geschöpft wären! Nur zu oft
fließt kein Tropfen daraus in ihren Adern! Und wie selten entstammen sie
wirklich dem deutschen Parnaß! Dabei fällt mir eine Schuld ein. die ich
abzutragen habe, ich meine das vor einem Monat versprochene Urtheil über
die Leistungen unseres gegenwärtigen französischen Theaters. Man kann
nicht sagen, daß die Berliner Presse sehr gut auf dieselben zu sprechen wäre.
In der That ist es Herrn Luguet nicht gelungen, hat ihm auch unter den
bekannten obwaltenden Umständen nicht gelingen können, durchweg so
tüchtige Kräfte mit nach Berlin zu bringen, wie man es vor dem Kriege von
ihm gewöhnt war. Dennoch ist es sehr übertrieben, wenn ein großes hiesiges
Blatt von Leistungen gesprochen hat, wie wir sie hier auf Bühnen dritten
Ranges besser zu sehen gewöhnt seien, und von Schauspielern, die aus der
Hefe des Volkes aufgelesen zu sein scheinen. Sollen derartige Hyperbeln etwa
Patriotismus sein? Wahr ist, die männlichen Rollen sind im Fach der
jugendlichen Liebhaber sehr ungenügend besetzt, im Uebrigen aber zählt die
Gesellschaft lauter ihren Aufgaben gewachsene Kräfte, darunter zwei bis drei,
wie sie die tgi. Hofbühne kaum ebenbürtig, jedenfalls nicht besser aufzuweisen
hat. Dazu übt die Truppe die den Franzosen eigene Tugend lebendigen
Dialogs und vollendeten Zusammenspiels in einem Maaße, wie es von keiner
hiesigen Bühne erreicht wird. Auch an Fleiß hat sie es nicht fehlen lassen;
jede Woche brachte sie ein oder gar mehrere neue Stücke. Eine sehr hervor¬
ragende Leistung gab der Director Luguet selbst in der Titelrolle von Balzac's
„Mercadet". Das Stück ist weniger ein Drama, als eine überaus geistvolle
und wahre psychologische Studie; es schildert alle die verzweifelten Manipu¬
lationen, mit denen ein am Rande des Abgrunds schwebender Gründer sich
und die Seinen zu halten sucht — ein Stück, vor einem Menschenalter ver¬
faßt und doch wie aus der unmittelbarsten Gegenwart herausgegriffen. Ihren
größten Erfolg aber hat die Truppe mit ihrer gestrigen Vorführung von des
jüngeren Dumas „1.0 äemi-monäo" erzielt. Das Stück ist meines Wissens in
deutscher Übertragung bisher nicht aufgeführt worden; schwerlich würden
auch deutsche Schauspieler zu einer vollwerthigen Wiedergabe im Stande sein.
Was die Franzosen als „<Zomi-moral;" bezeichnen, jene mit erborgten Glänze
übertünchte Klasse weiblicher Wesen, welche, ehemals Frauen von Stand, die
Schranken der Convention durchbrochen und sich dem Genusse voller Eman¬
cipation ergeben haben, oder welche, durch ein besonderes Maaß von Geist
und Liebreiz begünstigt, als Hochstaplerinnen von niedriger Stufe bis zu der
Höhe einer Quasiartstokratie emporgestiegen sind — ist bei uns doch glücklicher-
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