Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Freude an der Narrethei auf offener Straße fehlt der Berliner Bevölkerung,
fürchte ich, die Naivetät. In Leipzig mag es gelungen sein, die anfangs
apathische Massen allmählich zu galvanisiren; aber von dem reichshauptstädtischen
Publikum, das die dem Sachsen angeborene Höflichkeit nicht gerade zu seinen
hervorragendsten Tugenden rechnen kann, wird man kaum eine wohlwollende
Neutralität, sondern weit eher direct feindseligen Spott erwarten dürfen.
Dazu nun noch der weltstädlische Verkehr, der in der schon an sich nicht
überflüssig breiten Friedrichsstraße einem Narrenzuge keinen Raum zu effect¬
voller Entfaltung läßt. Doch warten wir's ab!

Uebrigens ist an den hergebrachten Faschingsfreunden Berlins, als da
sind Maskenbälle ohne Masken, Theaterpossen, Berliner Pfannkuchen u. s. w.
auch Heuer, trotz Kulturkampf und Geschäftsstille, kein Mangel. Schade nur,
daß Herr Ludwig Büchner seine Borlesungen bereits beendigt hat. Man
hätte dann untersuchen können, ob ihnen nicht wenigstens vom Standpunkte
der luftigen Weltanschauung dieser närrischen Tage einige Berechtigung zu¬
käme. Wahrscheinlich würde diese Untersuchung aber ebenso zu ihren Ungun-
sten ausgefallen sein, wie die Betrachtung vom ernst-wissenschaftlichen Stand¬
punkte. Stände diesem Apostel des Materialismus wenigstens noch der geist¬
reiche Cynismus Karl Vogt's zu Gebote! Aber langweiliger Vortrag, banale
Prase, entsetzliche Oberflächlichkeit und anmaßungsvolle Selbstüberschätzung
allein berechtigen doch nicht dazu, die gebildete Welt unter der Bedingung
einer sehr anständigen Bezahlung über die höchsten Probleme belehren zu
wollen. In Wahrheit hat Herr Büchner gegenüber den wirklichen Pro¬
blemen, wie z. B. Umsetzung der physischen Gehirnfunction in geistige Thä¬
tigkeit, Entstehung des Selbstbewußtseins, entweder gar nicht den Versuch
einer Lösung, oder, wenn er es that, aufs kläglichste Fiasco gemacht. Was
er, den Blick unverwandt auf das Manuscript geheftet, seinen Zuhörern vor¬
las, hatte jeder Gebildete unter ihnen fast durchweg bereits weit besser gele¬
sen oder gehört. Auch die entschiedensten Anhänger der von Büchner ver¬
tretenen Richtung stimmen in dies Urtheil ein. Nichtsdestoweniger wird
Herr Büchner Berlin ohne Zweifel mit der Selbsttäuschung verlassen haben,
ein Opfer fanatischer Voreingenommenheit geworden zu sein. Nun. die Weise,
wie die große Mehrheit unserer gebildeten Welt soeben das Dahinscheiden eines
Mannes betrauert hat, der am Ende seiner Laufbahn auch aus dem Boden
des reinen Materialismus angelangt war, beweist zur Genüge, daß der
wahre Denker und Forscher sich die Achtung aller Parteien erzwingt.
David Friedrich Strauß wird auch nach seinem Tode fortleben in der Wis¬
senschaft, Herr Büchner ist fortan lebendig begraben.

Lassen wir ihn ruhen und kehren wir in unsere Carnevalatmosphäre
zurück! Unsere Theater haben in jüngster Zeit das Publikum mit einer


Freude an der Narrethei auf offener Straße fehlt der Berliner Bevölkerung,
fürchte ich, die Naivetät. In Leipzig mag es gelungen sein, die anfangs
apathische Massen allmählich zu galvanisiren; aber von dem reichshauptstädtischen
Publikum, das die dem Sachsen angeborene Höflichkeit nicht gerade zu seinen
hervorragendsten Tugenden rechnen kann, wird man kaum eine wohlwollende
Neutralität, sondern weit eher direct feindseligen Spott erwarten dürfen.
Dazu nun noch der weltstädlische Verkehr, der in der schon an sich nicht
überflüssig breiten Friedrichsstraße einem Narrenzuge keinen Raum zu effect¬
voller Entfaltung läßt. Doch warten wir's ab!

Uebrigens ist an den hergebrachten Faschingsfreunden Berlins, als da
sind Maskenbälle ohne Masken, Theaterpossen, Berliner Pfannkuchen u. s. w.
auch Heuer, trotz Kulturkampf und Geschäftsstille, kein Mangel. Schade nur,
daß Herr Ludwig Büchner seine Borlesungen bereits beendigt hat. Man
hätte dann untersuchen können, ob ihnen nicht wenigstens vom Standpunkte
der luftigen Weltanschauung dieser närrischen Tage einige Berechtigung zu¬
käme. Wahrscheinlich würde diese Untersuchung aber ebenso zu ihren Ungun-
sten ausgefallen sein, wie die Betrachtung vom ernst-wissenschaftlichen Stand¬
punkte. Stände diesem Apostel des Materialismus wenigstens noch der geist¬
reiche Cynismus Karl Vogt's zu Gebote! Aber langweiliger Vortrag, banale
Prase, entsetzliche Oberflächlichkeit und anmaßungsvolle Selbstüberschätzung
allein berechtigen doch nicht dazu, die gebildete Welt unter der Bedingung
einer sehr anständigen Bezahlung über die höchsten Probleme belehren zu
wollen. In Wahrheit hat Herr Büchner gegenüber den wirklichen Pro¬
blemen, wie z. B. Umsetzung der physischen Gehirnfunction in geistige Thä¬
tigkeit, Entstehung des Selbstbewußtseins, entweder gar nicht den Versuch
einer Lösung, oder, wenn er es that, aufs kläglichste Fiasco gemacht. Was
er, den Blick unverwandt auf das Manuscript geheftet, seinen Zuhörern vor¬
las, hatte jeder Gebildete unter ihnen fast durchweg bereits weit besser gele¬
sen oder gehört. Auch die entschiedensten Anhänger der von Büchner ver¬
tretenen Richtung stimmen in dies Urtheil ein. Nichtsdestoweniger wird
Herr Büchner Berlin ohne Zweifel mit der Selbsttäuschung verlassen haben,
ein Opfer fanatischer Voreingenommenheit geworden zu sein. Nun. die Weise,
wie die große Mehrheit unserer gebildeten Welt soeben das Dahinscheiden eines
Mannes betrauert hat, der am Ende seiner Laufbahn auch aus dem Boden
des reinen Materialismus angelangt war, beweist zur Genüge, daß der
wahre Denker und Forscher sich die Achtung aller Parteien erzwingt.
David Friedrich Strauß wird auch nach seinem Tode fortleben in der Wis¬
senschaft, Herr Büchner ist fortan lebendig begraben.

Lassen wir ihn ruhen und kehren wir in unsere Carnevalatmosphäre
zurück! Unsere Theater haben in jüngster Zeit das Publikum mit einer


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0323" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/130967"/>
          <p xml:id="ID_974" prev="#ID_973"> Freude an der Narrethei auf offener Straße fehlt der Berliner Bevölkerung,<lb/>
fürchte ich, die Naivetät. In Leipzig mag es gelungen sein, die anfangs<lb/>
apathische Massen allmählich zu galvanisiren; aber von dem reichshauptstädtischen<lb/>
Publikum, das die dem Sachsen angeborene Höflichkeit nicht gerade zu seinen<lb/>
hervorragendsten Tugenden rechnen kann, wird man kaum eine wohlwollende<lb/>
Neutralität, sondern weit eher direct feindseligen Spott erwarten dürfen.<lb/>
Dazu nun noch der weltstädlische Verkehr, der in der schon an sich nicht<lb/>
überflüssig breiten Friedrichsstraße einem Narrenzuge keinen Raum zu effect¬<lb/>
voller Entfaltung läßt. Doch warten wir's ab!</p><lb/>
          <p xml:id="ID_975"> Uebrigens ist an den hergebrachten Faschingsfreunden Berlins, als da<lb/>
sind Maskenbälle ohne Masken, Theaterpossen, Berliner Pfannkuchen u. s. w.<lb/>
auch Heuer, trotz Kulturkampf und Geschäftsstille, kein Mangel. Schade nur,<lb/>
daß Herr Ludwig Büchner seine Borlesungen bereits beendigt hat. Man<lb/>
hätte dann untersuchen können, ob ihnen nicht wenigstens vom Standpunkte<lb/>
der luftigen Weltanschauung dieser närrischen Tage einige Berechtigung zu¬<lb/>
käme. Wahrscheinlich würde diese Untersuchung aber ebenso zu ihren Ungun-<lb/>
sten ausgefallen sein, wie die Betrachtung vom ernst-wissenschaftlichen Stand¬<lb/>
punkte. Stände diesem Apostel des Materialismus wenigstens noch der geist¬<lb/>
reiche Cynismus Karl Vogt's zu Gebote! Aber langweiliger Vortrag, banale<lb/>
Prase, entsetzliche Oberflächlichkeit und anmaßungsvolle Selbstüberschätzung<lb/>
allein berechtigen doch nicht dazu, die gebildete Welt unter der Bedingung<lb/>
einer sehr anständigen Bezahlung über die höchsten Probleme belehren zu<lb/>
wollen. In Wahrheit hat Herr Büchner gegenüber den wirklichen Pro¬<lb/>
blemen, wie z. B. Umsetzung der physischen Gehirnfunction in geistige Thä¬<lb/>
tigkeit, Entstehung des Selbstbewußtseins, entweder gar nicht den Versuch<lb/>
einer Lösung, oder, wenn er es that, aufs kläglichste Fiasco gemacht. Was<lb/>
er, den Blick unverwandt auf das Manuscript geheftet, seinen Zuhörern vor¬<lb/>
las, hatte jeder Gebildete unter ihnen fast durchweg bereits weit besser gele¬<lb/>
sen oder gehört. Auch die entschiedensten Anhänger der von Büchner ver¬<lb/>
tretenen Richtung stimmen in dies Urtheil ein. Nichtsdestoweniger wird<lb/>
Herr Büchner Berlin ohne Zweifel mit der Selbsttäuschung verlassen haben,<lb/>
ein Opfer fanatischer Voreingenommenheit geworden zu sein. Nun. die Weise,<lb/>
wie die große Mehrheit unserer gebildeten Welt soeben das Dahinscheiden eines<lb/>
Mannes betrauert hat, der am Ende seiner Laufbahn auch aus dem Boden<lb/>
des reinen Materialismus angelangt war, beweist zur Genüge, daß der<lb/>
wahre Denker und Forscher sich die Achtung aller Parteien erzwingt.<lb/>
David Friedrich Strauß wird auch nach seinem Tode fortleben in der Wis¬<lb/>
senschaft, Herr Büchner ist fortan lebendig begraben.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_976" next="#ID_977"> Lassen wir ihn ruhen und kehren wir in unsere Carnevalatmosphäre<lb/>
zurück! Unsere Theater haben in jüngster Zeit das Publikum mit einer</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0323] Freude an der Narrethei auf offener Straße fehlt der Berliner Bevölkerung, fürchte ich, die Naivetät. In Leipzig mag es gelungen sein, die anfangs apathische Massen allmählich zu galvanisiren; aber von dem reichshauptstädtischen Publikum, das die dem Sachsen angeborene Höflichkeit nicht gerade zu seinen hervorragendsten Tugenden rechnen kann, wird man kaum eine wohlwollende Neutralität, sondern weit eher direct feindseligen Spott erwarten dürfen. Dazu nun noch der weltstädlische Verkehr, der in der schon an sich nicht überflüssig breiten Friedrichsstraße einem Narrenzuge keinen Raum zu effect¬ voller Entfaltung läßt. Doch warten wir's ab! Uebrigens ist an den hergebrachten Faschingsfreunden Berlins, als da sind Maskenbälle ohne Masken, Theaterpossen, Berliner Pfannkuchen u. s. w. auch Heuer, trotz Kulturkampf und Geschäftsstille, kein Mangel. Schade nur, daß Herr Ludwig Büchner seine Borlesungen bereits beendigt hat. Man hätte dann untersuchen können, ob ihnen nicht wenigstens vom Standpunkte der luftigen Weltanschauung dieser närrischen Tage einige Berechtigung zu¬ käme. Wahrscheinlich würde diese Untersuchung aber ebenso zu ihren Ungun- sten ausgefallen sein, wie die Betrachtung vom ernst-wissenschaftlichen Stand¬ punkte. Stände diesem Apostel des Materialismus wenigstens noch der geist¬ reiche Cynismus Karl Vogt's zu Gebote! Aber langweiliger Vortrag, banale Prase, entsetzliche Oberflächlichkeit und anmaßungsvolle Selbstüberschätzung allein berechtigen doch nicht dazu, die gebildete Welt unter der Bedingung einer sehr anständigen Bezahlung über die höchsten Probleme belehren zu wollen. In Wahrheit hat Herr Büchner gegenüber den wirklichen Pro¬ blemen, wie z. B. Umsetzung der physischen Gehirnfunction in geistige Thä¬ tigkeit, Entstehung des Selbstbewußtseins, entweder gar nicht den Versuch einer Lösung, oder, wenn er es that, aufs kläglichste Fiasco gemacht. Was er, den Blick unverwandt auf das Manuscript geheftet, seinen Zuhörern vor¬ las, hatte jeder Gebildete unter ihnen fast durchweg bereits weit besser gele¬ sen oder gehört. Auch die entschiedensten Anhänger der von Büchner ver¬ tretenen Richtung stimmen in dies Urtheil ein. Nichtsdestoweniger wird Herr Büchner Berlin ohne Zweifel mit der Selbsttäuschung verlassen haben, ein Opfer fanatischer Voreingenommenheit geworden zu sein. Nun. die Weise, wie die große Mehrheit unserer gebildeten Welt soeben das Dahinscheiden eines Mannes betrauert hat, der am Ende seiner Laufbahn auch aus dem Boden des reinen Materialismus angelangt war, beweist zur Genüge, daß der wahre Denker und Forscher sich die Achtung aller Parteien erzwingt. David Friedrich Strauß wird auch nach seinem Tode fortleben in der Wis¬ senschaft, Herr Büchner ist fortan lebendig begraben. Lassen wir ihn ruhen und kehren wir in unsere Carnevalatmosphäre zurück! Unsere Theater haben in jüngster Zeit das Publikum mit einer

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_130643
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_130643/323
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_130643/323>, abgerufen am 25.12.2024.